Die Studie einer Psychologin bietet diese provokante These als Erklärung für unterschiedliche
Diagnosen in den Gutachten von amtlichen und niedergelassenen Medizinern an, die über den
weiteren Aufenthalt der Menschen entscheiden. Die Berliner Senatsverwaltung für Inneres
weist den Vor- wurf zurück und verlässt sich bei medizinischen Fragen in Abschiebeverfahren
weiter auf den Polizeiärztlichen Dienst.
Rund 800 Bürgerkriegs-Flüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina müssen sich seit Anfang
vergangenen Jahres beim Polizeiärztlichen Dienst (PÄD) der Hauptstadt vorstellen. Damals
hat die zuständige Senatsverwaltung für Inneres beschlossen, sie auf ihren Gesundheitszustand
und ihre Reisefähigkeit hin zu untersuchen - auch wenn die Betroffenen bereits bei einem Arzt
waren. Alle leiden unter einer so genannten posttraumatischen Belastungsstörung, die Men-schen nach Erlebnissen von extremer Angst oder Hilflosigkeit befällt, etwa wenn sie selbst in
Lebensgefahr schwebten oder Zeuge eines Mordes wurden. Diese Belastungsstörung steht wie
andere Krankheiten auch der Abschiebung entgegen und hat ein „verfestigtes Aufenthalts-recht" zur Folge, wie Stefan Paris, Sprecher der Senatsverwaltung für Inneres, erklärt. In
medizinischen Fällen bestellt die Berliner Landesregierung den PÄD der Hauptstadt als Gut-achter und ist damit, so Paris, stets „gut gefahren".
Damit war es allerdings vorbei, als die Psychologin Angelika Birck am Behandlungszentrum
für Folteropfer (BZFO) begann, die Stellungnahmen der Amtsärzte mit denen ihrer
niedergelassenen Kollegen zu vergleichen. Unter dem Titel „Wie krank muss ein Flüchtling
sein, um von der Abschiebung ausgenommen zu werden?" hat Birck ihre Ergebnisse als Studie
veröffentlicht. Sie verglich Ende vergangenen Jahres 26 der bisher durchgeführten
Untersuchungen, zu denen ein Urteil von Polizeiärzten und niedergelassenen Medizinern
vorlag.
Ergebnis in politischen Kontext gesetzt
Die Wissenschaftliche Mitarbeiterin des BZFO kam zu dem Ergebnis, dass sich die
Stellungnahmen „gravierend unterscheiden". Während die niedergelassenen Fachkollegen für
jede Person eine klinische Diagnose stellten, sah der polizeiärztliche Dienst in 18 Fällen keinen
Anlass dafür. Außerdem hielten die Niedergelassenen jede Person für behandlungsbedürftig,
die Amtsärzte dagegen nur fünf. Vor allem zwei Punkte bemängelt Birck an der Arbeit des
PÄD: Sie sei seltener an internationalen Qualitätsstandards orientiert, zudem sei die
Sprachverständigung zwischen Arzt und Patient „deutlich beeinträchtigt". Aus diesen Gründen
mangelt es den Diagnosen an Qualität, so eine Folgerung der Studie, weshalb „kaum Aussagen
über Behandlungsbedarf und Prognosen gestellt werden" könnten. Als mögliche Erklärung
liefert die Psychologin Birck eine These, die für viel Wirbel gesorgt hat.
Da die Argumente der polizeiärztlichen Atteste aus medizinischer Sicht „in der Regel in sich
widersprüchlich, nicht nachvollziehbar und unverständlich" seien, machten sie „nur in einem
politischen Kontext Sinn, der die Durchsetzung der Abschiebung fordert". Was man mit einer
solchen Aussage lostreten kann, hat Angelika Birck inzwischen erfahren, weshalb sie im Bezug
auf ihr Urteil nun jedes Wort sorgfältig abwägt und im Gespräch vorzugsweise den Konjunktiv
gebraucht: „Natürlich ist es krass, zu sagen, diese Stellungnahmen seien politisch gewünscht.
Aber es fällt auf, dass diese Hypothese mehr Sinn macht als andere." Als Beleg für das ihrer
Meinung nach systematische Vorgehen des Polizeiärztlichen Dienstes wertet die Expertin auch
die Tatsache, dass einer Abschiebung ins Herkunftsland bis auf eine Ausnahme zugestimmt
wurde. Angelika Birck ist der Ansicht, dass bei den Behörden eine „Hierarchie der Argumen-te" besteht, die sie in ihrer Studie so beschreibt: Die untersuchte Person ist gesund; ist sie so
schwer krank, dass die Störung nicht gelegnet werden kann, besteht kein Behandlungsbedarf.
Ist der Behandlungsbedarf nicht mehr zu leugnen, kann er im Herkunftsland erfüllt werden.
Die Studie hat bei den Betroffenen offensichtlich für Gewitterstimmung gesorgt. Stefan Paris,
Sprecher der Senatsverwaltung für Inneres, will zu dem Thema eigentlich gar nicht mehr viel
sagen, gerät dann aber doch rasch in Rage. „Unerträglich" seien die Vorwürfe in Richtung der
Polizeiärzte, die ja schließlich einen Eid geleistet hätten: „Das ist keine Art und Weise, miteinander umzugehen. Wir sehen uns überhaupt nicht veranlasst, an unserer Praxis etwas zu ändern". Für den Berliner Polizeipräsidenten gibt es ebenfalls keinen Anlass, an der wissenschaftlichen Rechtschaffenheit seiner Mitarbeiter zu zweifeln. In einer Presseerklärung verweist er
auf „die Auswertung von lediglich 26 Personen", bei denen der PÄD zu einem Teil ein anders-
lautendes Gutachten ausgestellt habe: „Geäußerte Unterstellungen einer Abhängigkeit der
ausgebildeten Fachkräfte von politischen Vorgaben werden auf das Schärfste zurückgewiesen.
Die Fachkräfte des PÄD sind ausschließlich dem eigenen ärztlichen Gewissen und der medizinischen Fachkunde verpflichtet." Verständigungsprobleme gebe es bei vielen Patienten nach
langem Aufenthalt in Deutschland nicht, heisst es, „dass Untersuchungen ohne ausreichende
Verständigungsmöglichkeit abgebrochen werden und ein Dolmetscher angefordert wird, ist
eine Selbstverständlichkeit".