"Wir haben eine Diskussion angestoßen!" brüstet sich manch Vetreter der Union und man hat dabei den Eindruck, dass er damit nur die Hohlheit der Debatte kaschieren will, die ihm bzw. ihr wohl bewusst ist. Man müsse angesichts der Träumereien von der multikulturellen Gesellschaft einen Gegenentwurf bieten, so die Rechtfertigungsfloskel. Was aber wurde denn bitte angestoßen, was nicht längst schon im Rollen war? Die ernst zu nehmenden Protagonisten einer multikulturellen Gesellschaft haben doch schon längst ihre Positionen revidiert. Daniel Cohn-Bendit et alii haben längst erkannt, dass dieser Entwurf nicht verordnet werden kann. Offenbar war es aber nötig, ein Phantom zu animieren, um die eigenen Reihen endlich mal wieder um eine Idee zu scharen.
Auch wenn die Konstruktion dieser Konfliktlinie fragwürdig ist, hätte ja vielleicht doch was dabei rauskommen können. Stattdessen verengte sich die Debatte beim Versuch, die Begriffshülle zu füllen, sehr schnell auf folgende Desiderate: Die Kenntnis der deutschen Sprache und Verfassungstreue bzw. der Respekt der in ihr manifestierten Wertvorstellungen der westlich-abendländischen Zivilisation sind unabdingbare Voraussetzungen, die die Zureisewilligen erfüllen müssen. Wow!
Was die Sprache anbelangt, hatten wir die Debatte - und zwar schon recht konkret - anlässlich des neuen Staatsbürgerschaftsrechts angefacht. Bayern hat sich einen vergleichsweise anspruchsvollen Sprachtest ausbedungen. Die Opposition hat viel dagegen gekräht, doch mittlerweile scheint darüber Frieden eingekehrt. Wer will, kann es Bayern ja nachmachen, der Rest lässt es eben bleiben.
Das Recht auf eine Satellitenschüssel
Was die Verfassungsfrage anbelangt reden wir einerseits über Selbstverständlichkeiten, andererseits impliziert sie auch Aspekte, vor deren Erörterung sich die Wortführer der Debatte hüten. Die Verfassung enthält nicht nur einen Wertekanon, sondern auch Freiheitsrechte. Um es konkret zu machen: Unter Berufung auf das in Artikel 5 I 1 GG niedergeschriebene Grundrecht auf Informationsfreiheit war es Türken möglich, sich das Recht auf eine Satellitenschüssel zu erklagen, ohne die sie z.B. den türkischen Sender RTR nicht hätten empfangen können, es sei denn, er war ins Kabelnetz eingespeist. Damit hatten und haben sie gleichzeitig die Möglichkeit, sich dem Einfluss der deutschen Kultur weitgehend zu entziehen. Die Moral von der Geschicht: Die liberalen Verfassungen westlicher Prägung zeichnen sich dadurch aus, dass sie ziemlich Kultur-neutral sind. Eine Gleichsetzung von Verfassung und "Leitkultur" wird die Debatte nicht dorthin bringen, wo viele ihrer Protagonisten sie gern hätten.
Schließlich stellt sich die Frage, ob die "Leitkultur"-Debatte, verstanden als eine Integrationsdebatte im Reichstag richtig aufgehoben ist. Die Lebenswirklichkeiten von Deutschen und Ausländern sind je nach Wohnort äußerst unterschiedlich. Die Frage, wie sich Ausländer zu integrieren haben, wird bei Märzens im Sauerland anders beantwortet werden als in München-Neuperlach oder in Berlin-Kreuzberg. In diesen Städten zeigt sich, dass sich viele junge Ausländer über den "Umweg" jugendlicher Subkultur in die hiesige Gesellschaft integrieren.
Verquickung von Asylrecht und Einwanderungsrecht?
Es scheint, als wurde mit dieser fruchtlosen Debatte viel Zeit vertändelt. Noch immer wissen wir nicht, worüber wir sprechen, wenn von einem Zuwanderungsgesetz die Rede ist. Verquickt man absurderweise das auf humanen Erwägungen basierende Asylrecht und das auf ökonomischen Nützlichkeitserwägungen basierende Einwanderungsrecht? Und wenn ja, wie? Und wenn es zum Schwur kommt: Wirtschaftlicher Aufschwung oder kulturelle Homogenität? Wie war es vor gut vierzig Jahren, als man zu Adenauers Zeiten die Tore weit öffnete, um unser Wirtschaftswunder zur Blüte zu bringen und die Leute reinzulassen, über deren Integration wir uns jetzt Gedanken machen? Unangenehme Fragen, die durch das belanglose Reden von der "Leitkultur" eher verschleiert, als konkretisiert werden.