e-politik.de: Worum es mir ging: Ich hatte mich gefragt, wie sich
Eltern mit
solchen Fotos und so einem Text fühlen. Wissenschaftlich mag es völlig
richtig sein, eine Missgeburt als "Laune der Natur" zu bezeichnen.
Aber wenn
jemand gerade Vater wird, eine Frau schwanger ist oder von ihrem Arzt die
Diagnose erhält: ihr Kind leide an einem irreparablen Schaden und sei nicht
lebensfähig - wie empfindet so jemand diese Geschichte? Ich denke, der Text
macht es sich da zu leicht, von einer "Laune der Natur" zu sprechen -
um sich
dann wenig später auch über die "ätherische Schönheit" dieser Wesen
auszulassen. Man kann es sicherlich so sehen. Aber in diesem Zusammenhang?
Es sind tote Föten, Leichen, die ihren Eltern einmal Schmerz und Leid
bereitet haben. In diesem Zusammenhang von "Laune der Natur" und
"ätherischer Schönheit" zu sprechen finde ich zynisch oder zumindest
unsensibel. Und da frage ich mich: Wie kommt ein Autor wie Roger Willemsen
dazu, so
etwas zu schreiben? Wobei ich mir sicher bin, dass er es sich sehr gut
überlegt hat, warum er was schreibt. Der Text ist bestimmt nicht in zwei
Stunden entstanden.
Wichmann: Die Länge der Arbeitszeit hat nicht notwendigerweise
etwas mit der
Qualität des Endergebnisses zu tun. Nur soviel: Willemsen hat daran eine
Woche gearbeitet.
e-politik.de: Die Frage an den Chefredakteur, der den Text gegen
liest und für
gut befindet: Hat es Sie nicht gestört, dass Willemsen in diesem
Zusammenhang von "Laune der Natur" und "ätherischer Schönheit"
spricht?
Wichmann: Nein, das hat mich nicht gestört. Ich kann mir keinen
besseren
Text zu diesen Bildern vorstellen. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich
finde diese Bilder schrecklich. Gleichzeitig aber finde ich im Schrecken
auch das Faszinierende. Ich empfinde
sie zum Teil auch ekelhaft, aber sehe im Ekel auch das Faszinierende und das
Schöne. Die Bilder erzeugen eine unheimliche Polarität in mir: so sehr ich
sie ablehne, so sehr will ich sie auch sehen. Ich verstehe jeden Betrachter,
der das empfindet, was Sie gerade beschrieben haben. Mich interessiert die
Frage: Warum ist das so? Und Willemsen hat es geschafft, dieses Warum zu
erklären.
e-politik.de. Sie haben recht. Die Bilder der toten Föten berühren
einen viel
mehr, als es der alltägliche Schrecken, der alltägliche Tod tut. Aber diese
Föten sind doch gerade nicht alltäglich, sie sind das Besondere. Darum
bleibt zumindest der Verdacht, dass es genau darum geht: In einer Welt, die
immer mehr abstumpft, das besondere, noch nie dagewesene Grauen zu zeigen.
Wichmann: Nein, darum geht es nicht. Es geht nicht darum, zu
sagen, jetzt
sind wir alle Voyeure, jetzt zeigen wir Bilder, die es noch nie
gegeben hat. Es ist uns nicht um die Sensation, es ist uns um die Diskussion
gegangen. Und die wird geführt.
e-politik.de: Willemsen geht in seinem Text auch auf die Geschichte
ein, wie
mit Missbildungen umgegangen wurde, dass sie in "Abnormitätenschauen"
auf
Jahrmärkten ausgestellt wurden. Ich denke, grundsätzlich hat sich das nicht
geändert: Menschen mit Missbildungen sind auch heute noch "Hingucker"
- man
schaut sie an. Eine Haltung, die Willemsen kritisiert. Ich weiß nicht, ob
die acht Fotos nicht den gleichen Effekt haben wie die
"Abnormitätenschau"
auf einem Jahrmarkt. Ich weiß nicht, wo der Unterschied sein soll.
Wichmann: Es kann sein, dass dieser Effekt da ist. Der große
Unterschied
aber ist, dass ein Jahrmarkt von der Sensation lebt. Diese Bilder haben
gewiss etwas Sensationelles. Sie erheben aber auch einen künstlerischen
Anspruch und lösen diesen ein.
e-politik.de: Geht es nur darum Kunst zu zeigen, oder geht es nicht
auch darum,
die Gendebatte um die Machbarkeit des Lebens zu problematisieren...
Wichmann: Klar, aber das sagte ich bereits.
e-politik.de: Dass es Missgeburten gibt, und dass sie zum Alltag der
Menschen
gehören?
Wichmann: Die perfekte Kreation, die durch die Entschlüsselung des
genetischen Codes
herbei gesehnt wird, gibt es für mich nicht. Das Leben ist launenhaft. Das
Werden von Leben ist auch launenhaft. Diesen Bildern gelingt es, Debatten
anzustoßen und das mit einer Kraft und Intensität, die ich so selten erlebt
habe.
Teil 1 - Wir hatten eine lange Debatte in der Redaktion
Teil 3 - Wir sind alle Voyeure - nur in unterschiedlichem Maß
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