Sehr geehrter Herr Bundespräsident!
Für die fünfundzwanzig Jahre, die ich in diesem Land leben durfte, bin ich mehr als dankbar. Wahrscheinlich hätte ich auch auf einem anderen Fleckchen Erde geboren werden können. Der Zufall meinte es offensichtlich gut mit mir, meinen knapp 80 Millionen Landsleuten und auch mit Ihnen, Herr Bundespräsident.
Natürlich haben Sie ein Sakrileg begangen. Als höchster Repräsentant unseres Staates haben Sie den Selbstzweck eines völkischen Labels angezweifelt. Wer möchte Ihnen jetzt nicht eine ungesunde Weltsicht attestieren? Ob Amerikaner, Franzose oder Brite: Alle machen Sie es uns vor. Nur wir Deutsche sollen und dürfen nicht stolz auf unser Land sein.
Was bedeutet denn dieser Stolz auf einen so abstrakten Begriff, wie Deutschsein?
Bei einer repräsentativen Umfrage würden wahrscheinlich die vermeintlich "klassischen deutschen Tugenden" als primäre Attribute unseres kollektiven Wesens genannt werden. Ordnung, Fleiß, Strebsamkeit. Doch wie viele Deutsche leben dieses spartanische Technokratenleben, das uns als so Deutsch verkauft wird? Vor Kurzem waren wir jedenfalls noch in der Spaßgesellschaft.
Wer Geschichte als maßgebliches Identifikationsmoment für einen Deutschen anführt, begibt sich schnell auf ziemlich glattes Eis. Goethe und Bach, Novalis und Hegel, von Fallersleben und Heine waren Deutsche. Aber waren Freisler und Göring, Bormann und Heydrich es nicht auch? War die Paulskirche oder der Fall der Berliner Mauer mehr Deutsch, als es Bergen-Belsen oder Guben waren?
Vielleicht ist es - vergeben Sie das böse Wort - unser gemeinsames Blut, das uns Deutsch sein lässt. Das Blut der Ahnen, dass von unserem fleißigen, braven und treuen Herzen durch den ganzen Körper gepumpt wird, um unseren rechtschaffenden und ordnungsliebenden Geist erstrahlen zu lassen, so man ihn denn lassen würde. Hinweg sind all die segensreichen Bekundungen, die uns in unserer Auffassung versichern, dass wir aus dem größten Schrecken gelernt hätten. Da schränkt sich innerhalb von Sekundenbruchteilen Michels Blickfeld ein. Denn Istanbul liegt weder zwischen Maß und Memel noch zwischen Etsch und Belt, deutscher Pass hin oder her.
Ist Nationalität denn mehr als ein Feigenblatt, das man sich für den schlimmsten Fall aufspart? Ein Feigenblatt, welches immer dann hervorgeholt wird, wenn Besitzstandswahrung, Borniertheit und Intoleranz mal wieder die Oberhand gewonnen haben. Der Verdacht liegt Nahe, denn wie ist anders der pathetisch-nationale Abgesang zu beurteilen, dem sich rechte Wirrköpfe nur allzu gerne hingeben? Wer nichts hat, hat immer noch seine Nationalität oder noch schlimmer, seine Rasse.
Haben die Gegner ihrer Aussage schon den "Vaterlandslosen Gesellen", oder gar den "Dolchstoß" aus dem Wörterbuch des Unmenschen hervorgeholt? Mit Sicherheit nicht. Denn ein Deutscher weiß, dass er gewisse Worte zumindest nicht aussprechen darf.
"Stolz ist man auf das, was man selber zu Wege gebracht hat." Dafür ziehe ich meinen Hut vor Ihnen, weil Sie es gewagt haben, den wunden Punkt einer verwirrten Nation anzutasten. Wer den Nationalstolz anderer Völker, als vorbildlich rühmt, vergisst Eines: Wir haben erlebt, was passiert, wenn man Stolz und Erhabenheit verinnerlicht. Wir haben erlebt, was passiert, wenn man Nationalität mit Recht verwechselt. Wir haben erlebt, wie klein der Schritt von Stolz zu Überheblichkeit und Hochmut ist.
Wir sollten auf das Nichtstolzsein stolz sein. Nicht etwa, weil wir Deutschen unsere Chance vertan haben sondern weil wir erkannt haben müssten, dass ein unstolzes Deutschland ein wunderbares Land sein kann, das aus Bescheidenheit erntet, das aus Weltoffenheit und Freundlichkeit lebt und nicht aus einem abstrakten völkischen Erhabenheitsgefühl, das bei allen Völkern der Welt viel mehr Unglück als Glück hervorgebracht hat.
Jedem Deutschen steht frei, Freude über die Gnade seiner Geburt zu empfinden. Jedem Deutschen steht frei, Zufriedenheit über die Möglichkeit freier Meinungsäußerung, demokratischer Kultur oder anderer Werte, zu empfinden. Vielleicht sogar Stolz. Aber Stolz auf demokratische Werte, steht dem Stolz auf gemeinsames Blut diametral entgegen. Jeder mag für sich selbst den richtigen Weg finden, denn das ist einer der deutschen Werte, auf die ich stolz bin.