Gewagtes Spiel in Ankara
Autor : Florian Bergmann E-mail: redaktion@e-politik.de Artikel vom: 06.11.2002
Ein erdrutschartiger Sieg der islamistischen AKP bei den Parlamentswahlen
hat in der Türkei die etablierten Parteien hinweggefegt. Florian Bergmann
kommentiert.
Die Türkei hat gewählt. Eigentlich sollte man sagen: „protestgewählt“. Denn
die 68 Millionen Türken haben der Islamistenpartei AKP eine absolute
Mehrheit geschenkt und die etablierten Parteien gnadenlos „abgewatscht“.
Jahrzehntelange Wirtschaftskrise, zunehmende Verarmung der Bevölkerung und
eine korrupte und inkompetente Bürokratie haben in der Wahl ihre Kanalisierung gefunden.
Die AKP mag zwar auch gemäßigte Mitglieder haben und sich neuerdings betont
moderat und pro-europäisch geben, doch viele Anhänger zweifeln immer noch die Trennung von Religion und Staat an. Radikale Elemente sind durchaus
vorhanden. Doch man weiß auch, dass die Türkei zu sehr vom Westen abhängig
ist und nicht die Mehrheit des Volkes hinter dem Islamismus steht. Ob sich
nun zeigt, dass eine islamische Herrschaft mit Demokratie vereinbar sein
kann, steht offen.
Die Mängel im System aufgezeigt
Ein weit wichtigerer Aspekt der Wahl ist aber vielleicht, dass wieder einmal
das in sich politisch instabile System der Türkei aufgezeigt wurde. Eine
Zehn-Prozent-Hürde (ursprünglich gegen die Kurdenpartei errichtet) kehrt den
eigentlichen Sinn solcher Sperren um und erschwert eher ein Kontinuum im
System. Die Parteienlandschaft ist dermaßen zersplittert, dass jede
politische Richtung mindestens doppelt besetzt ist. Skandale,
Korruptionsvorwürfe, Abgeordnete, die im Parlament aufeinander einschlagen,
Regierungskrisen – die Parteien haben wenig Kontinuität, Neugründungen und
Auflösungen haben nicht selten mit persönlichen Ambitionen der Führer zu
tun. Programmatische Differenzen spielen eine eher untergeordnete Rolle.
Viele Abgeordnete wechseln während der Legislaturperiode die Partei.
Die Gesellschaft ist immer noch fern vom Ziel des Staatsgründers Kemal Atatürks, fern von einem heterogenen, laizistischen Nationalstaat: verarmte moslemische
Massen, geistige, westorientierte Elite, eine mit zwielichtigem Einfluss
versehene Großindustrie, unterdrückte Kurden und schließlich die Armee, die
über den Nationalen Sicherheitsrat eine für westliche Maßstäbe unerträgliche
Macht im Staat ausübt.
Die AKP ist eine stark auf ihren Anführer Tayyip
Erdogan ausgerichtete Partei. Erdogan jedoch darf nach einer Verurteilung
wegen Volksverhetzung selbst zwar Minister aber nicht Ministerpräsident
werden. Eine Regierung jedoch, deren eigentlicher Chef aus dem Hintergrund
walten muss, stellt ebenfalls ein ernst zu nehmendes Problem dar.
Neben einer funktionierenden Marktwirtschaft ist aber weiterhin auch ein
demokratisches politisches System in Verbindung mit gewissen Rechtsstandards
die Voraussetzungen für einen EU-Beitritt. All dies hat die Türkei immer
noch nicht.
Die Wirtschaft geht vor
Ob die AKP nun „islamistisch“ genannt werden kann oder nicht, spielt wohl
weniger eine Rolle; in der Türkei kommt es weniger auf Programme an, als auf
Gesichter und das Verstehen von Handwerk. Gesiegt hat also zunächst einmal
der Wunsch nach neuen Gesichtern.
Wichtig ist nun, dass die Sieger ihre
Versprechen halten und das Land zunächst aus der ökonomischen Misere führen.
Die Stärke im Parlament mit fast zwei Drittel der Sitze haben sie dazu. Doch
dazu ist Disziplin nötig. Alle Kräfte sollten auf das wirtschaftliche Wohl
gelegt, die anderen Bereiche sollten zunächst abwartend behandelt
werden.
Danach ist Zeit für Reformen, die das Land stabiler machen könnten
und mit denen die Türkei – vielleicht – EU-tauglicher werden könnte.
|
|
|
|