Anrede,
von einer "neuen transatlantischen Verständnislosigkeit" ist in diesen Monaten häufiger die Rede - müssen wir uns
ernsthafte Sorgen machen um die europäisch-amerikanische Partnerschaft? Eines scheint in der Tat seitenverkehrt: da
gibt es verbreitete Skepsis in den USA gegenüber der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik: sei es, weil
die Europäer endlich ernsthaft mehr für ihre Sicherheit tun wollen, sei es, weil man in Washington nicht glaubt, dass die
Europäer ernst meinen, was sie sagen. Die besonnenen Stimmen, die seit langem den Ausbau des europäischen Pfeilers
der transatlantischen Sicherheit fordern, dringen kaum durch. In Europa hingegen geht man - aufgerüttelt durch die
Erfahrungen des Kosovo-Konflikts - die Schaffung europäischer Krisenbewältigungsfähigkeiten mit einem fast schon
amerikanischen "can do"-Pragmatismus an und hat seit unserer letzten Begegnung in München mehr erreicht als in vielen
Jahren und mit vielen Kommuniqués zuvor.
Präsident Clinton hat in seiner letzten "State of the Union"-Rede eine Bilanz gezogen, die jeden europäischen
Regierungschef begeistern würde: niedrige Arbeitslosigkeit, dauerhaftes Wirtschaftswachstum, üppige
Haushaltsüberschüsse, aus denen innenpolitische Projekte finanziert werden können. Amerika ist gegenwärtig also in
einer beneidenswerten Lage. Dies bleibt auch außenpolitisch nicht ohne Folgen. Henry Kissinger hat dieser Tage
geschrieben, die "Überlegenheit Amerikas sei in offene Vorherrschaft umgeschlagen" - eine Entwicklung, die gewiss nicht
überall auf der Weit auf Gegenliebe stößt. Aber Europa kann sich glücklich schätzen, ein starkes, prosperierendes
Amerika als Partner und Verbündeten zu haben. Ich halte überhaupt nichts davon, die USA für ihre Stärke zu kritisieren.
Es ist vielmehr Europa, dessen Schwächen wir angehen und überwinden müssen. Genau deshalb hat die
Bundesregierung hier ihren politischen Schwerpunkt mit der Überwindung der Wachstumsschwäche der deutschen
Wirtschaft gesetzt.
Europa ist heute ein Kontinent der nach seiner künftigen Gestalt sucht und ein im Werden begriffenes politisches Subjekt.
Die europäische Agenda der nächsten Jahre ist ebenso umfangreich wie anspruchsvoll: von der Reform der
Entscheidungsprozesse für eine EU mit mehr als 20 Mitgliedern über die strategische Weichenstellung der Erweiterung
um die mittel- und osteuropäischen Demokratien bis hin zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Die USA hingegen leben
im vollen Selbstbewußtsein der einzigen Supermacht mit einem nur noch in historischen Kategorien zu vergleichenden
politischen, wirtschaftlichen und kulturellen weltweiten Einfluß.
Die Entwicklungslinien des transatlantischen Verhältnisses verlaufen dabei nicht linear: sosehr die amerikanisch
dominierte 'Internet-based economy" unsere Gesellschaften und Volkswirtschaften revolutioniert und einander angleicht,
sosehr wächst in Europa der Wille zur Bewahrung der eigenen gesellschaftlichen Ausprägung. Unsere kulturelle und
gesellschaftspolitische Vielfalt, die lange Europas Schwäche und Ursache vieler Kriege war, haben wir als Stärke entdeckt
- das gilt auch für die Sprachen. Die Breite möglicher europäisch-amerikanischer Konfliktfelder nimmt durchaus zu, ob
es um gentechnisch veränderte Lebensmittel, Subventionsregeln oder lärmmindernde Flugzeugausrüstungen geht. Diese
Interessendivergenzen in konkreten Einzelfällen müssen wir ernst nehmen. Aber sind sie nicht in erster Linie Ausdruck
einer beispiellosen und stetig zunehmenden Nähe unserer Gesellschaften? Das transatlantische Netzwerk ist jenseits
offizieller Regierungskontakte erheblich gewachsen. Die damit zwangsläufig auftretenden neuen Reibungsflächen sind
aber kein Ausdruck einer Krise, sondern Begleiterscheinung des Erfolgs. Sie bedürfen aber neuer Regelungsinstanzen.
Die aus unseren gemeinsamen Wurzeln gewachsenen Werte und Interessen verbinden unsere Länder und Kontinente
wie kaum zwei andere auf der Weit. Dieser Werte- und Interessenkonsens bildet angesichts der Herausforderungen der
Zukunft die stärkste transatlantische Klammer für das 21. Jahrhundert.
Wir Europäer werden von unseren amerikanischen Partnern nicht verlangen können, dass sie die Komplexität des
europäischen Einigungsprozesses und der daraus gewachsenen institutionellen Strukturen im einzelnen nachvollziehen
- sowenig, wie wir wirklich in der Lage sind, die Prägung der amerikanischen Politik durch die Weite und Geschichte des
Landes in seiner vollen, auch emotionalen Tragweite zu begreifen. Aber es muss uns gelingen, deutlich zu machen, dass
der schnelle Aufbau einer echten europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik für die Krisenbewältigung einer
erkannten Notwendigkeit entspricht und beiden Seiten nützt. Die Entschlossenheit der Europäer, mehr zu tun, ist eine
Konsequenz aus der europäischen Schwäche, die uns während der Militäraktion im Kosovo klar vor Augen geführt wurde,
als der weit überwiegende Teil der militärischen Risiken und Verantwortung bei den USA lag. Diese politische
Entschlossenheit liegt aber auch - und das ist langfristig ebenso bedeutsam - in der zwingenden Konsequenz des
europäischen Einigungsprozesses.
Es waren die Gründerväter der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl um Jean Monnet, die die europäische
Integration auf den Weg gebracht haben, aber es war auch und vor allem die amerikanische Präsenz in Europa, unter
deren Schirm sich die friedliche Überwindung alter Feindschaften durch das radikal neue Prinzip der Integration so
überaus erfolgreich durchsetzen konnte. Dieses Europa, das Amerika so viel verdankt, wird nun nach- und nach
erwachsen. Dass dies auch in der Krisenbewältigung geschieht, liegt im wohlverstandenen amerikanischen Eigeninteresse - nur so läßt sich ein noch dramatischeres Ungleichgewicht vermeiden, das schließlich die NATO, dieses
Fundament unserer Sicherheitspartnerschaft, ernsthaft in Mitleidenschaft ziehen müsste. Die USA haben in dieser
Hinsicht keine Sorge nötig. Sie werden auch für ein vereinigtes Europa ein gesuchter Bündnispartner bleiben, da Europa
immer die transatlantische Rückversicherung aus geopolitischen Gründen brauchen wird. Europas Sicherheits- und
Verteidigungspolitik wird auch künftig viel zu bescheiden dimensioniert sein, um die USA wirklich zu beunruhigen.
Meine Sorge geht in eine ganz andere Richtung: Europa muss sich organisieren, um für die Vereinigten Staaten in ihrer
überragenden Position ein interessanter, ein vollwertiger Partner zu sein. Ein Partner - das muss unser europäisches
Interesse sein - der so stark ist, dass er ernstgenommen, gefragt und gehört wird. Die Beschlüsse von Köln und die
Berufung von Javier Solana zum Hohen Repräsentanten für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik war ein
erster Schritt. In Helsinki haben wir folgerichtig den nächsten getan, weitere - auch in Richtung eines echten
Außenministers der EU - müssen in den kommenden Jahren folgen.
Unsere kollektive Verteidigung ist und bleibt Sache der NATO, das hat der Gipfel von Helsinki unmissverständlich
klargestellt. Zugleich gilt wenn es den Europäern gelingt, die ambitionierten Ziele von Köln und Helsinki Wirklichkeit
werden zu lassen, wird sich auch die NATO verändern. Aber tut sie nicht genau das ohnehin in bemerkenswerter
Radikalität seit dem Ende des Kalten Krieges? Warum sollten wir gerade jetzt defensiv an die neuen Herausforderungen
herangehen, statt sie als Chance zur Neugestaltung der transatlantischen Partnerschaft zu begreifen?
Über die vergangenen fünfzig Jahre hat sich - ohne unsere stabile und belastbare Partnerschaft zu gefährden - das
transatlantische Verhältnis dramatisch verändert. Die Europäer, die von vorausschauenden amerikanischen
Staatsmännern nach dem Krieg in den Aufbau einer kooperativen internationalen Ordnung quasi gezwungen werden
mussten, werben heute gegenüber den USA für die Vorzüge des Multilateralismus. Gerade für Deutschland ist eine
multilaterale Außenpolitik angesichts seiner geographischen Lage und seiner geschichtlichen Erfahrung zu einem
Leitmotiv geworden, das auch unsere künftige internationale Rolle prägen wird.
Demographische und technologische Trends werden das Verhältnis zwischen Europa und Amerika in den nächsten
Jahrzehnten weiter drastisch verändern: gesellschaftlich, kulturell, wirtschaftlich, politisch. Dennoch bleiben die USA für
Europa ohne jeden Zweifel der "partner of choice" bei der Gestaltung der Globalisierung und ihrer Folgen.
Anrede,
die Vollendung der europäischen Einigung ist ein Projekt mit eigener Dynamik und eigenen Gesetzen: Die in Helsinki
erfolgte Aufnahme der Türkei in den Kreis der Beitrittskandidaten folgte in erster Linie europäischen Interessen und den
Regeln des Integrationsprozesses, nicht dem - legitimen - Interesse der USA an der strategischen Einbindung der Türkei.
Mit anderen Worten: unsere Interessen sind sehr oft deckungsgleich und führen uns zu gleichgerichtetem, abgestimmtem
Handeln. Aber die USA müssen auch die Eigengesetzlichkeiten der europäischen Integration sehen.
Die europäischen Krisenmanagement-Kapazitäten müssen deshalb konsequent als Teil der Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik ausgebaut werden, aber - dafür wird sich die Bundesregierung nachdrücklich einsetzen - in einer für
die USA transparenten Weise und kompatibel zur NATO. Klare Strukturen der Zusammenarbeit zwischen EU und NATO
sollen in den nächsten Monaten etabliert werden, um ein politisch und militärisch reibungsloses Zusammenwirken aller
Verbündeten zu garantieren.
Ich will noch auf einen Punkt eingehen, den die Skeptiker jenseits des Atlantik häufig vorbringen. Es ist richtig, dass die
Realisierung der in Helsinki beschlossenen „headline goals" erheblichen politischen Willen einschließlich finanzieller
Mittel voraussetzt. Es ist richtig, dass die Frage der militärischen Fähigkeiten eine Achillesferse der Europäer ist. Die
europäischen NATO-Partner haben zwar reichlich Soldaten unter Waffen, aber ihnen fehlen viele der erforderlichen
Fähigkeiten zur Krisenbewältigung. Es gibt auch keinen Zweifel, dass die notwendigen Anstrengungen den Europäern
schwerer fallen als einem mit Haushaltsüberschüssen gesegneten Amerika. Aber die bemerkenswerten Fortschritte der
letzten zwölf Monate haben weder übertriebenes Misstrauen noch übertriebene Ungeduld verdient.
In den Vereinigten Staaten weiß man sehr gut um die Notwendigkeit einer konsequenten Haushaltssanierung, um
politische Handlungsspielräume zurückzugewinnen. Die Bundesregierung und ihre europäischen Partner werden die als
politisch richtig erkannten und gemeinsam beschlossenen Reformen umsetzen. Wir sollten deshalb daran arbeiten, die
in Helsinki vereinbarten „headline goals" mit der „Defense Capabilities Initiative" der Allianz eng abzustimmen. Wir
Europäer müssen dafür unsere Ressourcen besser auf die Aufgaben der Krisenprävention und Krisenbewältigung
ausrichten. Und wir müssen in Deutschland vorankommen in der Diskussion um die künftige Struktur der Bundeswehr
- eine der großen politischen Aufgaben dieses Jahres.
Anrede,
die Europäische Union hat sich das Jahr 2003 als Ziel gesetzt für die Realisierung ihrer „headline goals". Die USA wollen
in diesem Sommer eine Entscheidung über ein Projekt strategischer Tragweite treffen, das bis 2005 in einer ersten Phase
realisiert werden soll und die Sicherheit aller Partner in der Allianz langfristig stark beeinflussen wird: das Projekt einer
nationalen Raketenabwehr. Wir müssen die wachsende Bedrohung durch Trägersysteme ernst nehmen und gemeinsam
in der Allianz nüchtern analysieren. Aber wir sollten auch die Schlussfolgerungen gemeinsam ziehen. Sonst wird nicht
nur der technologische Graben über den Atlantik breiter werden. Die NATO hat immer wieder und zu Recht die,
Bedeutung von Abrüstung und Rüstungskontrolle als Beitrag zu ihrer Sicherheit hervorgehoben. Die weitreichenden
Implikationen der Entwicklung, des Baus und der Stationierung eines Raketenabwehrsystems auf die Sicherheit im
Bündnis und auf die Zukunft der internationalen Abrüstung sollten deshalb gemeinsam sehr sorgfältig abgewogen werden.
Es ist deutsches, europäisches und Bündnisinteresse, eine drohende Lähmung des Abrüstungsprozesses zu vermeiden
und statt dessen neue Impulse zu geben. Wir wollen das nukleare Nichtverbreitunsregime erhalten und stärken. Das ist
unser Ziel für die im April anstehende NVV-Überprüfungskonferenz - den wichtigsten Eckpfeiler des
Nichtverbreitungsregimes - für deren Erfolg wir uns stark engagieren werden. Das ist auch die Motivation für unser
entschlossenes Eintreten für den nuklearen Teststoppvertrag und für die Aufnahme von Verhandlungen über ein Verbot
der Produktion von Spaltmaterial für Kernwaffenzwecke. Ich habe die große Hoffnung, dass die Ablehnung des
Teststoppvertrages durch den US-Kongress im vergangenen Oktober nicht das letzte amerikanische Wort in dieser Sache
war.
Europa hat durch das Netz rüstungskontrollpolitischer und vertrauensbildender Verpflichtungen, wie sie auch im neuen
KSE-Vertrag niedergelegt sind, einen gewaltigen Zugewinn an Stabilität und Sicherheit erfahren. Aus diesem Netz von
Beschränkungen, Notifizierungen und Inspektionen ist Vertrauen gewachsen, das für die Sicherheit des Kontinents,
unschätzbar wertvoll ist und erhalten werden muss - auch durch einen über den Atlantik immer wieder neu gewonnenen
Konsens. Wir unterstützen deshalb die Bemühungen in Washington, den START-Prozeß gemeinsam mit Moskau
voranzutreiben und wir hoffen, dass auch die Zukunft des ABM-Vertrages als wichtiger Baustein des internationalen
Rüstungskontrollregimes einvernehmlich geklärt wird.
Das Verhältnis zu Russland wird auch in Zukunft eine Herausforderung, ein Test für die transatlantische Partnerschaft
sein. Unsere Agenda ist weitgehend, aber nicht vollständig deckungsgleich: Der Blick der USA richtet sich stärker auf
russische Nuklearwaffen und Energieressourcen, Europa sieht in Russland zunächst den großen Nachbarn und blickt
deshalb stärker auf die regionale Politik Russlands. Der Erfolg der Demokratie in Russland aber, seine Einbeziehung in
ein System multilateraler Verpflichtungen, ist unser gemeinsames Interesse - daran sollten wir unser Handeln immer
wieder ausrichten. Mit der für uns nicht akzeptablen Kriegführung in Tschetschenien isoliert sich Russland selbst und
gefährdet das seit 1989 im russisch-amerikanischen und russisch-europäischen Verhältnis Erreichte. Darüber besteht
beiderseits des Atlantik Einigkeit.
Anrede,
Europa hat eine Bringschuld auf dem Weg zum „indispensable partner". Wir sind uns bewusst, dass der
NATO-kompatible Aufbau der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik von höchster Bedeutung für diese
Partnerschaft ist Aber wir sollten auch das gegenseitige Vertrauen aufbringen, für den offeneren, gelegentlich auch
härteren Meinungsaustausch über den Atlantik neue, effektive Formen zu finden. Der transatlantische Wirtschaftsdialog
auf Unternehmensebene hat in den letzten Jahren beispielhafte Fortschritte gemacht. Die Europäische Sicherheits- und
Verteidigungspolitik wiederum hat das Potential, der „burden-sharing"-Debatte im Kongress - die noch älter ist als diese
traditionsreiche Münchner Konferenz - manche Schärfe zu nehmen.
Deutschland hat im Spannungsfeld zwischen europäischer Integration und fester transatlantischer Partnerschaft stets
eine vermittelnde, ausgleichende Rolle wahrgenommen. Unsere Meinungsunterschiede sind vor allem Ausdruck unserer
Nähe und der vielfachen Verflechtungen unserer Gesellschaften. Die Bundesregierung ist bereit und willens, den
kontinuierlichen Austausch mit den USA künftig noch stärker zu pflegen. Denn je weiter der europäische
Integrationsprozess voranschreitet, desto mehr müssen wir gleichzeitig für den europäisch-amerikanischen Ausgleich
tun. Deutschland hat ein elementares Interesse an der amerikanischen Präsenz in Europa. Wir wollen, dass Amerika eine
europäische Macht bleibt. Wir wollen keine Abschottung, sondern die Partnerschaft über den Atlantik, die das
Kraftzentrum der Weltwirtschaft, aber auch der internationalen politischen Ordnung bildet.
Das geschriebene Wort der Rede muss nicht mit dem auf der Konferenz gesprochenen Wort übereinstimmen.
Weitere Artikel und Reden zu und aus der Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik bei e-politik.de