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e-politik.de - Home  Kultur & Politik  Politischer Film   Archiv: Der Politische Film   Zug des Lebens


Komödie und Shoa - ein Interview mit Radu Mihaileanu

Autor :  Harald Witz
E-mail: redaktion@e-politik.de
Artikel vom: 29.03.2000

Anlässlich der Vorstellung seines Films "Zug des Lebens" kam Radu Mihaileanu nach München zum Interview mit e-politik.de. Harald Witz traf den gut gelaunten Filmemacher zum Gespräch über seinen Film, den jüdischen Witz und den Holocaust.


Der französische Regisseur rumänischer Herkunft lebt in Paris als Regisseur, Autor und Schauspieler. Vor seiner Emigration war er Leiter, Dramaturg und Regisseur einer Theatergruppe und Schauspieler am Jiddischen Theater in Bukarest. Nach seinem preisgekrönten Debüt "Trahir" (1993) ist "Zug des Lebens" sein zweiter grosser Spielfilm als Regisseur.

e-politik.de: Fangen wir mit der Sprache an: Wie sind Sie denn mit der deutschen Synchronisation Ihres Filmes zufrieden?

Mihaileanu:Ich war sehr angenehm überrascht. Wir haben ja den Film auf Französisch mit jüdischem Akzent gedreht, was irgendwie komisch war. In der deutschen Synchronfassung sprechen die Leute beinahe Jiddisch und auch Deutsch mit jiddischem Akzent. Das ist viel näher an der Originalgeschichte als die ursprüngliche französische Fassung.

e-politik.de: Warum haben Sie nicht gleich auf Jiddisch gedreht?

Mihaileanu: Weil es in keinem Land funktioniert hätte ausser in Deutschland.

e-politik.de: Wie blicken Sie auf die vergangene Zeit zurück, seit Sie den Film gemacht haben. Immerhin sind das drei Jahre und lange Zeit schien es, als ob der Film nicht nach Deutschland käme.

Mihaileanu: Letztlich haben wir hier ein Happy-End. Der Film ist ja eine Komödie und lebt von seinem Witz. Der letzte Witz ist der, dass wir "Zug des Lebens" eigentlich recht schnell in die ganze Welt verkaufen konnten. Sogar nach China und Südafrika haben wir ihn bringen können. Die beiden letzten Länder, die den Film nicht kaufen wollten, waren Japan und Deutschland. Das kam uns schon wie ein Witz vor. Und vielleicht gibt es eine Beziehung zwischen dem Thema des Films und diesem Zufall. Es hat uns natürlich für Deutschland sehr leid getan, weil Deutschland nahe am Thema sitzt. Wir waren traurig, aber wir hatten keine Erklärung. Selbst nach dem Benigni-Erfolg "Das Leben ist Schön" ist zunächst nichts passiert. Da wussten wir, dass es zumindest nicht die Konstellation Komödie und Shoah sein kann, die die Verleiher abschreckt.
Wegen des Erfolges von "Zug des Lebens" in anderen Ländern sind zwar einige Verleiher an uns herangetreten und wollten den Film haben. Aber es kam dann doch nicht dazu, weil sie immer der Meinung waren, dass das Publikum "Zug des Lebens" nicht akzeptieren würde. Als Regisseur war ich verständlicherweise anderer Meinung, aber ich dachte mir, dass die deutschen Verleiher ihr Publikum besser kennen als wir. Doch als wir in Cottbus den Film vor einem ganz jungen Publikum vorführten, waren die Leute begeistert. In Stuttgart hatten wir Erfolg. Aha, dachte ich, einige können mit dem Film doch etwas anfangen. Und jetzt sitze ich seit drei Tagen mit Journalisten zusammen und auch die haben den Film genossen. Es kann also nicht so schlimm sein mit der deutschen Humorlosigkeit. Bis jetzt weiss ich nicht, warum einige Verleiher hier Angst hatten, den Film in die Kinos zu bringen.

e-politik.de: Glauben Sie, dass der Erfolg von Benigni Ihrem Film hilft? Oder werden die Leute denken, da kommt schon wieder ein Film über Shoah?

Mihaileanu: Ich weiss nicht. In Italien war "Zug des Lebens" der grösste französische Erfolg aller Zeiten an den dortigen Kinokassen. Das war ein Jahr nach Benigni und in Benignis Heimat. Das beweist, dass die beiden Filme nebeneinander stehen können. Vielleicht hat es in manchen Ländern etwas ausgemacht, dass der Benigni-Film zuerst da war und die Leute vielleicht glaubten, "Der Zug des Lebens" sei etwas ähnliches. Dabei sind die Filme doch sehr unterschiedlich. Im Grunde ist nur das Konzept gleich: Humor und Shoah. Nun ja, wenn man der Meinung ist, dass man ein Thema nur einmal verfilmt sehen muss, dann dürfte man sich in seinem Leben nur einen Liebesfilm anschauen und all die anderen nicht. Das wäre doch wirklich schade, oder?
Andererseits bin ich da kein Fachmann. Ich mache ja nur Filme. Die Leute schauen sie sich an und reden hinterher ein bisschen darüber. Ich habe keine Ahnung von Zahlen, Fakten und Meinungen. Wieviel wird der Film einspielen und so weiter...
Ich bin nur froh, dass der Film in die ganze Welt verkauft wurde. So habe ich die Möglichkeit, Leute zu treffen und andere Kulturen kennenzulernen. Durch meine Filme spreche ich dann über das Leben und andere Dinge zu den Menschen.

e-politik.de: Wann kamen Sie denn auf die Idee, diesen Film zu machen? Wie kam es dazu, dass Sie Shoah mit Humor verbanden?

Mihaileanu: 1993 haben wir unsere Idee in Los Angeles angemeldet und die Rechte gesichert. Angefangen hat alles mit den Filmen "Shoah" und "Schindlers Liste". Mit diesen Filmen wurde eine Seite umgeblättert, vielleicht sogar ein Kapitel geschlossen. Es war danach unmöglich, in ähnlicher Weise über den Shoah zu sprechen. Nach diesen beiden Filmen hatten die Leute diese Schwere einfach satt. Es gab noch einen Film von Francesco Rosi ("Die Atempause", Anm. d. Red.), den wollte keiner mehr sehen.
Ich stamme aus Rumänien und bin Jude. Der rumänische Humor wie bei Ionesco zum Beispiel ist dem jüdischen sehr ähnlich: Man begegnet der Tragödie mit Humor. Vielleicht liegt es daran, dass wir in diesem Punkt ein wenig schüchtern sind, wir verstecken uns hinter Humor. Deshalb sagen wir auch immer, dass es uns gutgeht, auch wenn wir total am Ende sind. Wir schämen uns und bekämpfen diese Traurigkeit und die Tragödie mit Witzen – auch wenn wir es besser wissen. Es war das Nächstliegende, dieser schweren Vergangenheit mit Humor zu begegnen. Die Leute wollen nicht, dass man aufhört über Shoah zu sprechen, zu schreiben oder zu filmen. Aber sie wollen einen anderen Ton hören, eine andere Musik. All die Jahre immer dieselben traurigen Geschichten, möglichst noch in Schwarzweiss. Wer kann das auf Dauer ertragen? Ich habe mir gesagt, wir dürfen nicht aufhören über das Thema zu sprechen. Aber wir müssen die Sprache, die Art des Sprechens ändern.

e-politik.de: Die Deutschen gelten nun nicht gerade als die Experten, was Humor angeht. Was erhoffen Sie sich von dem "ernsten deutschen Publikum", gerade bei diesem Thema?

Mihaileanu: Ich habe ja schon gewusst, dass die Deutschen sehr ernst mit dem Thema Shoah umgehen. Sie würden keinen Witz mit Shoah akzeptieren. Es gibt wie in allem immer zwei Seiten – es gibt guten und schlechten Humor. Als schlechten Humor würde ich es verstehen, wenn morgen zum Beispiel ein Star wie Eddie Murphy hinginge und einen Film über Shoah mit sich selbst in der Hauptrolle machen würde. Es wäre doch sehr auffallend, wenn da ein Schwarzer als Jude durch die Gegend laufen würde – das wäre eine schlechte Komödie.

e-politik.de: Haben Sie "Jakob der Lügner" mit Robin Williams gesehen?

Mihaileanu: Nein, ich habe nur das Buch von Jurek Becker gelesen. Das fand ich sehr gut. Ich würde gerne den deutschen Film aus den Siebzigern ("Jakob der Lügner", DDR 1974, Anm. d. Red.) sehen, aber ich hatte noch keine Zeit, danach zu suchen. Der soll sehr gut sein. Mein Problem mit "Jakob der Lügner" ist die Tatsache, dass es keine Komödie ist. Das Buch will nicht lustig oder humoristisch sein. Als mein Freund Peter Kassovitz den Film machte, habe ich ihm davon abgeraten. Was im Buch funktioniert, geht im Film nicht immer. Weil man nämlich gleich zu Anfang erfährt, dass er kein Radio besitzt, ist der Film sofort auch zu Ende. Was kann man da noch machen? Der Plot ist keine Komödie, er ist eine Lüge. Das ist nicht komisch. Es ist eine gute Idee für ein Buch, aber nicht für einen Film. Ich würde gerne den deutschen Film sehen, um einen Vergleich zu haben.
Ich habe mit Studenten in Cottbus gesprochen. Die haben mir gesagt, dass es in Deutschland geradezu verboten ist, Witze im Zusammenhang mit dem Shoah zu machen. Dazu muss ich sagen: Man sollte den Shoah an sich nicht lächerlich machen. Man lacht mit jemandem, aber man lacht niemanden aus. Der jüdische Humor ist immer ironisch. Wir lachen über uns selbst lustig, wir lachen über unser tragische und traurige Geschichte um des Überlebens Willens. Aber wir ziehen sie nicht ins Lächerliche, wir lachen nicht aus. Wir treiben keinen Spaß mit dem Shoah. Wir würden sonst verrückt werden, weil wir das Grauen bis heute nicht verstehen. Auch nach so vielen Jahren nicht und darunter leiden wir. Wir wissen um die Nazis in Südamerika, die noch immer sagen, dass man uns nicht weiter quälen und foltern muss, weil wir auch nach 50 Jahren noch immer leiden. Ich habe meinen Film vor allem für diese Leute gemacht, um ihnen zu zeigen: "Ja, wir sind verletzt und leiden noch. Aber wir leben noch. Und die Leute, die Ihr umgebracht habt, sind nicht tot. Sie leben weiter in unseren Köpfen, in unserem Andenken." Das ist unsere Waffe gegen sie. Vielleicht unsere einzig wirksame. Unser Botschaft ist: "Ihr habt uns nicht getötet. Wir leben!"

e-politik.de: Warum gibt es kein Happy-End? Die Zuschauer begreifen wahrscheinlich recht schnell in der Handlung, dass alles ein Traum, ein Märchen sein muss. Hätte man die Bewohner des Schtetl nicht in die Hoffnung weiterfahren lassen können?

Mihaileanu: Ich möchte nicht über das Ende sprechen, um nichts auszuplaudern, was der Spannung abträglich sein könnte. Lassen Sie mich allgemein über das Ende sprechen: Ich habe die Geschichte vom Ende zum Anfang geschrieben, denn das Ende ist wichtiger als der Anfang. Ich kann nicht verleugnen, was passiert ist, die Erinnerung meines Volkes an den Shoah. Ein Happy-End existiert nicht und wird auch nie existieren. Schon allein wegen des Umstandes, dass es selbst für meine Generation, die nicht mehr zu den Shoah-Überlebenden zählt, kein Happy-End in dieser Sache gibt. Jeden Tag denken wir an Shoah, wir leiden. Das ist kein Happy-End. Es ist unsere traurige Pflicht, auch der nächsten Generation diese Geschichte zu erzählen, auch wenn sie dann fortan leiden werden. Aber die Erinnerung muss am Leben gehalten werden. Wir müssen darum kämpfen, dass so etwas nie wieder passiert. Es gibt kein Happy-End, es darf keines geben. Und die, die eines daraus machen, sind Bastarde, weil die das Kapitel zuschlagen wollen. Doch das Kapitel wird nie geschlossen werden, weil Shoah nicht nur zum jüdischen und deutschen Volk gehört, sondern eine Angelegenheit der gesamten Menschheit ist. Wir sind alle in derselben Schöpfung entstanden. Und deshalb gibt es keine Schuldigen auf der einen und nur Opfer auf der anderen Seite. Wir sind auch schuld, denn wir gehören zu derselben Menschheit, die so etwas Ungeheuerliches zugelassen hat. Wir dürfen so etwas nie wieder zulassen.

e-politik.de: Welche Botschaft geben Sie mit "Zug des Lebens" den Menschen?

Mihaileanu: Auch wenn man weiss, dass der Film ein Märchen oder ein Traum ist, hoffe ich, dass sich die Zuschauer in die Menschen des Schtetls verlieben sollen. Mein Hauptcharakter in diesem Film ist das ganze Schtetl und nicht irgendeine Person. Wenn sich nun die Zuschauer in diese Menschen für anderthalb Stunden verlieben, dann können sie auch erahnen wie sich diese Menschen fühlen, wenn sie deportiert werden, wenn sie diejenigen verlieren, die sie lieben. Man stelle sich das vor: Man liebt jemand 10 Jahre oder ein Leben lang. Eines Tages macht es "schnitt" und sie sind alle tot, weil es irgendjemand befohlen hat. Die Zuschauer sollen sich in diese wundervollen, unperfekten Charaktere verlieben und dann verstehen lernen, dass diese Menschen nicht mehr existieren. Das mag gemein von mir sein, aber so kann man es eher begreifen. Es ist wichtig zu wissen, dass diese Menschen nicht mehr existieren. Sie sind eben nicht gerettet und sicher, sie existieren nicht mehr. Aber sie leben noch in unserer Erinnerung. Würde ich Sie vergessen, würde ich sie noch einmal töten. Deshalb erzähle ich diese Geschichte jedem - Freunden, Fremden, allen.

e-politik.de: A propos Gewalt, in "Zug des Lebens" gibt es eigentlich wenig Gewalt.

Mihaileanu: Das ist richtig. In diesem Film gibt es keine Toten, kein Tropfen Blut fliesst. Mein Film ist ein Film gegen Gewalt. Um gegen Gewalt zu sein, muss man nicht Gewalt zeigen, wie es manche Regisseure meinen. In manchen "Antigewaltfilmen" gibt es soviel Töten, Hauen und Blut, dass einem schlecht wird. Diese Regisseure sind nicht gegen Gewalt, sie lieben sie. Sie machen eine Show daraus und sind stolz und heiss darauf, eine Gewaltszene zu drehen. Ich denke, dass die einzige Gewalt, die sich abspielen muss, die in unserem Kopf ist. Ich möchte schöne Bilder zeigen, nette Menschen in einer unperfekten und deshalb wunderbaren Welt. Ich möchte, dass die Zuschauer wissen, dass diese Idylle jederzeit zerstört werden kann. Meine Manipulation ist es, den Zuschauern zu zeigen, dass ich weiss, dass die Leute Gewalt im Kopf haben. Ich benutze Kino als Präsentationsmedium, um eine Antigewalt zu zeigen.

e-politik.de: Woher haben sie den Aufbau des Schtetls her, wenn doch alle zerstört wurden?

Mihaileanu: Das Aussehen des Schtetl ähnelt dem Schtetl meines Vaters in Rumänien, von dem er uns Bilder gezeigt hat und das er uns oft beschrieben hat.

e-politik.de: Wo könnte das Schtetl denn liegen?

Mihaileanu: Historisch am korrektesten würde man es nach Rumänien, Galizien, legen. Aber ich wollte im Film nicht angeben, wo es genau liegt, sonst wäre es ja kein Märchen geworden. Viele glauben, dass ich die Spielregeln der Dokumentation verletze, wenn ich historisch ungenau bin. Aber ich entgegne, dass ich ja ein Märchen erzähle und keine Doku drehe. Berücksichtigt man den Einfall der Deutschen 1941/42 passt die Gegend um Galizien ganz gut. Solche Schtetls gab es damals, den Zug natürlich nicht.

e-politik.de: Also kann man die Geschichte zeitlich gut einordnen?

Mihaileanu: Ja. Galizien liegt nordöstlich von Rumänien im heutigen Polen. Als die Deutschen einmarschierten, besetzten sie erst die Städte und breiteten sich erst langsam auf dem Lande aus. Die Schreckensnachrichten von den Gräueln breiteten sich natürlich etwas schneller aus. Deshalb ist es plausibel, dass die Bewohner des Schtetls davon erfahren.

e-politik.de: Wie war die Reaktion der Jüdischen Gemeinden zu ihrem Film?

Mihaileanu: Wir haben beim Jüdischen Filmfest letztes Jahr drei Screenings gemacht. Ich war bei zweien dabei. Bei dem einen Mal, gab es danach kaum Möglichkeiten der Diskussion mit den Zuschauern, weil eine Vertreterin der Gemeinde aufstand und meinte: "Nach so einem schönen Film ist schwer darüber zu sprechen, also gehen wir gleich nach draussen zum Empfang." Vielleicht hatte sie Angst vor der Reaktion der Leute. Ich stand zusammen mit ihr vor dem Publikum und guckte dumm. Und das deutsche Publikum reagierte gar nicht. Die Leute waren so diszipliniert, dass sie sofort gehorchten. In Italien oder Frankreich wären die Leute aus dem Häuschen gewesen, und hätten die Dame ausgepfiffen. Ich war sehr enttäuscht darüber, mit den Leuten nicht reden zu können. Beim zweiten Mal war sie nicht da und deshalb kam dann eine sehr kontroverse Diskussion zustande. Das war gut. Normalerweise melden sich nur die, die den Film nicht mögen. Die anderen, die ihn gut finden, sind schüchtern, vielleicht noch beeindruckt, und halten sich deshalb zurück. Die Leute, die den Film nicht mögen, sind schnell, so wie die Frau bei der Aufführung in Hamburg, die mich fragte, warum ich nicht besser einen Film über Rumänien gemacht hätte. Ich habe viele Filme gemacht, über Rumänien, mein Apartment und so. Nur ist Rumänien hier gar nicht das Thema. Ein anderer war nicht mit der Kombination von Shoah und Humor einverstanden. Die Gegner meldeten sich alle zuerst. Sehr diszipliniert und ordentlich. Erst nach 15 Minuten Diskussion und Polemik meldeten sich die Fürsprecher ganz schüchtern. Ein Rabbi musste den Anfang machen und erklären, dass er als Glaubensmann diesen Film gut findet. Danach folgten die anderen mutiger. Das ist eben einer der kulturellen Unterschiede: In Frankreich, Italien oder sonstwo hätten die Leute von Anfang herumgeschrien und gestritten. Das ist übrigens auch ganz lustig.

e-politik.de: Was gefiel den Zuschauern an Ihrem Film?

Mihaileanu: Es gibt viele Filme über Shoah, aber es gibt fast keine über Schtetl. All die kleinen jüdischen Gemeinden sind so stolz darauf, diese verloren geglaubte Zivilisation wieder zu entdecken. Der Film ist für sie mehr ein Film über diese verlorene Kultur als ein Film über Shoah. Die Jüdischen Gemeinden sind froh, diese Kultur und die jiddische Sprache zu erleben und dies auch noch als freudig und lebendig zu erfahren wie einen lebendig gewordenen Chagall. Die Filme über Schtetl sind alle deprimierend und enden im Shoah.

e-politik.de: Sie haben ihre eigene Heimat verlassen?

Mihaileanu: Ich habe Rumänien verlassen. Schtetls gibt es dort auch nicht mehr. Eine jüdische Kultur fast auch nicht mehr. Vor dem Krieg gab es 800.000 Juden in Rumänien, danach noch etwas über 400, und viele davon sind fortgegangen, nach Israel und Amerika. Jetzt gibt es wieder zwischen 8000 und 12000, zumeist alte Leute. Kleine Gemeinden, ein wenig Kultur, sogar ein Jiddisches Theater. Weil dort aber nur noch zwei Schauspieler wirklich Jiddisch sprechen, spielen sie zumeist einfach nur normale Stücke. Zu meiner Zeit dort waren es noch die Hälfte. Es gibt zwar in Rumänien eine kleine jüdische Tradition, aber sie wird früher oder später verloren gehen.

e-politik.de: Wäre es keine Aufgabe, zurückzugehen und eine jüdische Kultur wieder zu etablieren?

Mihaileanu: Nein, es ist am Absterben. So wie das Jiddisch. Es gibt zwar verrückte Bestrebungen in New York, über Kurse und Studien das Jiddische wieder aufleben zu lassen. Aber die Leute, die es jetzt lernen, werden es nie flüssig sprechen. Mit wem denn auch? Man sollte da nicht naiv sein. Dieser Teil der Kultur wird untergehen, sterben.

e-politik.de: Was wird Ihr nächstes Projekt sein?

Mihaileanu: Ich schreibe, aber ich mag nicht darüber reden, weil ich nicht weiss, ob es gut wird. Sonst unterhalten wir uns hier eine halbe Stunden über etwas, das später im Mülleimer landet.

e-politik.de: Das Thema vielleicht: ihr Apartment, Rumänien?

Mihaileanu: Über die Liebe.

e-politik.de: Also ein nicht speziell jüdisches Thema?

Mihaileanu: Mhm, der Hauptcharakter ist nicht jüdisch, aber ich, der Autor, bin immer noch Jude. Also wird etwas Jüdisches immer drin sein, auch wenn der Protagonist kein Jude ist. Der Humor vielleicht.

e-politik.de: Wie schwer war es den Film zu finanzieren?

Mihaileanu: Stellen Sie sich die Situation 1993 vor: Keiner wollte etwas mit Shoah machen. Und dann noch Shoah und Humor! Mein Vater war selbst deportiert worden. Alle haben uns für verrückt erklärt. Die Geldgeber hatten Angst, dass die Juden sie als antisemitisch verschreien würden. Die Schauspieler wollten nicht. Erst als Ludi Boeken und seine komplett jüdische Produktionsfirma miteinstiegen und in Frankreich bekanntgaben, dass sie den Film finanzieren würden, somit eine jüdische Organisation sagte, das Projekt sei koscher, kamen die Leute zu uns: Techniker, Schauspieler, andere Geldgeber.
Später war es komisch, dieselben Leute zu sehen, die diesen Film ablehnten, weil sie mit dem Thema nicht klarkamen, wie sie beim ersten Screening von "Das Leben ist schön" in Cannes mit Standing-Ovations reagierten. Jene Produzenten und Geldgeber hatten bei uns nicht den Mut aufgebracht, aber in Cannes hatten sie genügend Kraft zum Applaudieren.

Foto: Radu Mihaileanu beim Interview mit e-politik.de


Glossar:
"Shoa":
Shoa ist der offizielle Begriff im Staat Israel, und dient zur Kennzeichnung der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden unter dem Nationalsozialismus. Während das Wort also eindeutig ist, hat es jedoch den Nachteil, daß es nur mit "Katastrophe" oder "Unheil" übersetzt werden kann und daher in anderen Sprachen nicht hinreichend spezifisch ist. Der Begriff Shoa wird heute von vielen als angemessener empfunden als der bekanntere Sprachversuch Holocaust, angemessener vielleicht auch als die Metapher Auschwitz, bei der der Name eines Lagers für das ganze Ausmaß der Vernichtung steht. Die Nationalsozialisten sprachen von der Endlösung.
"Schtetl":
Ein Schtetl war eine Kleinstadt in Osteuropa mit jüdischer Bevölkerung, ein jüdisches Zentrum in einer nichtjüdischen, oft ländlichen Umgebung mit einem eigenständigen, geschlossenen Sozialsystem. In der Literatur gibt es keine Größendefinition eines Schtetl, keiner der Autoren gibt genau an, ob er von Dörfern, Kleinstädten oder Stadtvierteln spricht. Es ist anzunehmen, daß die Juden selbst jede dieser Formen liebevoll als ihr Schtetl bezeichneten, so daß wir also von Dörfern auf dem Lande genauso wie von Kleinstädten sprechen können.
In vielen kleinen Schtetl(ech) stellten die Juden wohl den größten Bevölkerungsanteil, wogegen sie sich in Großstädten in eigenen Stadtteilen sammelten und nur dort die Majorität stellten. Allen diesen verschiedenen Schtetl-Arten ist gemeinsam, daß sie keine Ghettos waren. Die Juden waren in ihren Schtetl(ech) nicht nur geduldet, sondern akzeptiert.


   

Weiterführende Links:
   Deutschsprachige Informationsseite zum Holocaust



Leserkommentar von Claus von Wagner
am 31.03.2000
Nachboren, bitte !

Danke für dieses einfühlsam geführte Interview und der ebenso guten Filmkritik, die mich dass ein oder andere Mal bereits aus Vorfreude schmunzeln liess. Den Film werde ich mir anschauen! Warum deutsche Filmverleiher allerdings die letzten waren, die diesen Film verbreiteten macht doch nachdenklich und sollte weiter untersucht werden. Ich würde mir eine nähere Beschäftigung mit diesem Thema von e-politik wünschen.

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