Drei Tage nach den Terroranschlägen auf zwei der wichtigsten Symbole Amerikas – die Zwillingstürme des Kapitalismus und die pentagonale Festung militärischer Überlegenheit – scheint die Normalität wieder in die Straßen Washingtons zurückgekehrt. Nur die Militärfahrzeuge an jeder größeren Kreuzung der Stadt und die verstärkte Polizeipräsenz verbleiben als Zeugen des Unfassbaren. Doch hinter der scheinbar gelassenen Fassade der Bevölkerung beherrschen vier Gefühle die Menschen: Unsicherheit, Trauer, Angst und Hass.
Ständige Unsicherheit
Jeder Hubschrauber, jedes Flugzeug, das über der Stadt kreist und sich nicht eindeutig als dem Militär oder der Polizei zugehörig identifizieren lässt, treibt Schauer über den Rücken der Verkehrsteilnehmer. Die Fußgänger beschleunigen heimlich ihren Schritt und suchen den nächstgelegenen Fernseher in einem Schaufenster oder Kaffeehaus. Das Gefühl der absoluten Sicherheit in dem sich die Amerikaner auf ihrer Heimaterde bisher wiegten, existiert nicht mehr - eingestürzt wie das World Trade Center.
Allgemeine Trauer
Die Ausmaße des Terrors, der im Großen so unbegreifbar ist, gewinnen im Kleinen Konturen. Niemand, der nicht betroffen ist. Jedes Gespräch beginnt mit der Frage nach dem Wohlbefinden von Freunden und Angehörigen. Fast jeder, dessen Familie von dem Unglück verschont geblieben ist, hat zumindest einen Bekannten, der persönlich oder dessen Freund von der Tragödie betroffen ist. Langsam klärt sich auch das Schicksaal der schon längst in Washington erwarteten Besucher auf. Erleichtert erfährt man, dass die verschollene Freundin nach drei Tagen ungeplanten Neufundlandaufenthaltes wieder sicher in Europa ist.
Allgegenwärtige Angst
Fast überall herrscht Angst. Doch nicht nur vor weiteren Akten des Terrors, sondern auch davor, wie Amerika auf diesen Anschlag reagieren wird. Jedem ist bewusst, dass die Vereinigten Staaten und die internationale Staatengemeinschaft auf die Anschläge reagieren werden. Man sorgt sich auch vor den möglichen Folgen eines Einsatzes massiver Waffengewalt. Bisher nur theoretisch diskutierte Horror-Szenarien haben mit einem Schlag eine seit der Kubakrise ungekannte Realität. So schloss Verteidigungsberater Christopher Winkler die Verwendung von strategischen Atomsprengkörpern nicht aus, hätte das Flugzeug die gegenüberliegende Seite des Pentagons zerstört und dadurch etwa das Leben von Defense Secretary Rumsfeld und hochrangigen Armeeangehörigen und Beamten gekostet.
Wachsender Hass
Langsam legten sich Schock und Entsetzen und machten Hass und Rachsucht Platz. „Ich wünsche, dass man den Verantwortlichen eine Kugel durch den Kopf jagt." - so hörte man fast überall. Die Fernsehbilder von Freudenfeiern im Nahen Osten und verstärkte Berichterstattung, die Osama bin Laden und arabisch-moslemische Terroristen in direkten Zusammenhang mit dem Terrorakt bringen, verstärken gleichzeitig alte Feindbilder. Kaum einer, der seine Rachegelüste zurückhält, kaum einer, der nicht nach Vergeltung ruft.
Schon führen die neu erwachten alten Feindbilder zu Fällen von Selbstjustiz. Vereinzelte Übergriffe auf amerikanische Staatsbürger der arabisch-moslemischen Minderheit sind die Folge. So wurden die Türen von arabischen Geschäften mit Schweineblut bestrichen, ihre Schaufenster zerstört. Anonyme Anrufer hinterließen Gewaltandrohungen auf den Anrufbeantwortern von moslemischen Mitbürgern. Aus Angst vor der Rache blieben die arabischen Schulen in den letzten Tagen geschlossen. Moslemische Familien zogen es vor, ihre Wohnungen nicht zu verlassen, wenn es nicht unbedingt notwendig war.
Doch es gibt auch positive Zeichen. Schnell verurteilte der Kongress die Übergriffe deutlich und in der nationalen Trauermesse in der Kathedrale von Washington rief auch Präsident George W. Bush zur nationalen Versöhnung auf.
Zum Dossier über die Terroranschläge in den USA