Hedley Bull - Die anarchische Gesellschaft
Im Gegensatz zu Hobbes vertritt Hedley Bull die Meinung, dass das Fehlen einer übergeordneten Instanz nicht gleich Unordnung bedeuten muss und bedeutet. Er entwirft hier die Theorie einer anarchischen Gesellschaft.
Die Anarchie auf internationaler Ebene bedeutet nicht, dass es keine ordnenden Elemente gibt, in der Realität bilden die souveränen Staaten eine geordnete, internationale Gesellschaft mit anarchischem Charakter. In der Regel haben Staaten eine sogenannte interne Souveränität, das heisst die interne Kontrolle über alle Instanzen in ihrem Territorium. Weiterhin verfügen sie über eine extrene Souveränität, also die Unabhängigkeit von externen Hoheitsträgern. Bei beiden muss man berücksichtigen, dass es eine faktische und eine normative Ebene gibt, da in der Realität der Unabhängigkeitsgrad der Staaten sehr unterschiedlich ist.
I. Internationales System und Internationale Gesellschaft
Ein Staatensystem (Internationales System) entsteht, wenn zwei oder mehr Staaten sich untereinander so beeinflussen, dass sie sich damit veranlassen, sich wie ein Teil des Ganzen zu verhalten. Die existenz zweier Staaten nebeneinander ist auch ohne Systembildung möglich, wie zum Beispiel bei Amerika vor Columbus und Europa.
Eine Staatengesellschaft (Internationale Gesellschaft) besteht, wenn eine Gruppe von Staaten sich anhand gemeinsamer Interessen durch ein Regelsystem verbunden sieht und über gemeinsame Institutionen verfügt. Zum Beispiel das Völkerrecht, Regeln für den Kriegsfall oder allgemeine, internationale Organisationen.
Die Internationale Gesellschaft setzt ein Internationales System voraus, aber ein Internationales System wird nicht unbeidngt zur Internationalen Gesellschaft.
II. Die Internationale Ordnung
Ordnung ist ein gesellschaftliches Handlungsmuster, welches die primären Ziele der Gesellschaft aufrechterhält. Die Ordnungziele der Internationalen Gesellschaft sind weder fix noch unveränderlich, doch sie bestehen im Prinzip aus der Bewahrung der Unabhängigkeit, der Aufrechterhaltung einer Koexistenz der Staaten und der Sicherstellung eines gewissen Mindestmaßes an Frieden.
Grotius vertrat die Ansicht, dass Herrschende und Beherrschte eine durch Moral gebundene Gesellschaft bilden, Hobbes und Macchiavelli gingen von einem regellosen Dauer-Kriegszustand aus und Kant sah den Ausweg aus der Anarchie in einer zentralen Herrscherinstanz. In der politischen Realität lassen ideologische Konflikte die Staaten manchmal den Glauben an die Option einer Internationalen Gesellschaft vergessen, doch danach folgt Verständigung, bei der diese Idee wiederauflebt. Ausserdem zeigt die Realität im Gegensatz zu Hobbes´Theorie , dass das Fehlen einer übergeordneten Instanz nicht gemeinsame Interessen wie Industrie und Handel verhindert.
Staaten ähneln Menschen in gewisser Hinsicht, aber sie sind weniger anfällig für Lebensbedrohungen. Sie unterscheiden sich im Grad ihrer Verwundbarkeit. Der Analogieschluß von Menschen auf Staaten versagt, weil ein internationales Ordnungsniveau auch ohne Weltregierung möglich ist.
III. Das Gleichgewicht der Mächte
Eine gemeinsame Institution ist das Gleichgewicht der Mächte, das heisst, dass kein Staat dominiert. Das Gleichgewicht hat drei historische Funktionen:
- Bewahrung des Mächtegleichgewichts verhindert die Unterwerfung des Internationalen Systems zum Weltreich.
- Das Vorhandensein lokaler Mächtgleichgewichte bewahrt Staaten davor, absorbiert oder unterworfen zu werden.
- Allgemeine und lokale Mächtegleichgewichte waren/sind Bedingung für internationale Institutionen, wie zum Beispiel das Völkerrecht.
In der gegenwärtigen internationalen Politik existiert schon länger ein Mächtegleichgewicht. In den 50er Jahren war es ein Zweistaatensystem (USA-UDSSR), in den 60er Jahren eine Übergangsphase und seit den 70er Jahren die Balance eines Mehrstaatensystems mit Schwerpunkten USA, UDSSR, China, Japan und das vereinigte Westeuropa.
Seit den 50er Jahren existiert auch die nukleare Abschreckung als institutionelle Gegebenheit, der Unterschied zum Mächtgleichgewicht liegt darin, dass die nukleare Abschreckung als erstes Ziel den Frieden hat. Dieser ist beim Mächtegleichgewicht eine eher zufällige Folge. Das Ziel des Mächtegleichgewichts ist die Bewahrung von Unabhängigkeit und des Internationalen Systems.
IV. Das Völkerrecht
Die Hauptfunktion des Völkerrechts ist die Festlegung eines gemeinsamen Gedankens einer Gesellschaft von souveränen Staaten als oberstes, normatives Prinzip der politischen Organisation Menschheit. Damit werden Alternativen, wie zum Beispiel Weltstaat, Weltreich oder Hobbes´ Kriegzustand ausgeschlossen.
Die zweite Funktion ist die Bestimmung verschiedener Regeln für die Koexistenz von Staaten. Drittens hilft das Völkerrecht, die Bereitschaft zur Einhaltung der Regeln zur Kooperation und Kommunikation zu mobilisieren.
Seit dem 19. Jahrhundert gilt größtenteils die individuelle Einwilligung der Staaten als Basis des Völkerrechts, im 16.-18. Jahrhundert hatte man oft das Naturrecht als Quelle vermutet. Derzeit wohl am wichtigsten sind die sogenannten solidaristischen Theorien, die das Naturrecht meiden, aber dennoch auch einen Meinungskonsens als legitim betrachten, dem einzelne Staaten ihre Zustimmung verweigern. Es gab seit dem 2.WK vier relevante Veränderungen laut den Völkerrechtlern:
- Aus einem rein für Staaten bindenden Recht wurde ein Recht einer Weltgemeinschaft.
- Das Aufgabengebiet Koexistenz wurde erweitert auf ökologische, wirtschaftliche und soziale Zusammenarbeit.
- Konsens ist die Quelle der bindenden Pflichten für alle.
- Aus einem eher statischen und mechanischem Recht wurde ein dynamisches, welches sich an die wandelnden Werte der Weltgesellschaft anpassen kann.
ABER: Die wachsende Schwerpunktsetzung auf die Rechte und Pflichten der einzelnen Menschen bedeutet ein Schwinden des Konsenses. Das Wachsen des Völkerrechts der Kooperation bedeutet nicht die Stärkung des Völkerrechts der Koexistenz. Das Völkerrecht hat zwar Ordnung nicht herbeigeführt, aber dessen Bewahrung unterstützt. Auch wenn der Konsensbereich durch die Existenz kommunistischer und nicht-kommunistischer Regierungsformen geschrumpft ist, wurden einzelne Ordnungselemente aufgrund des Völkerrechts aufrechterhalten, z.B. Seerechts-Konventionen oder Vertragsrecht.
V. Die Diplomatie
- Sie erleichtert die Kommunikation unter Staaten, ohne Kommunikation gäbe es weder ein Internationales System noch eine Internationale Gesellschaft. Die elementare Aufgabe des Diplomaten ist die des Boten, dessen Immunität unbedingt zwingend sein muß.
- Diplomatie garantiert die Aushandlung von Übereinkünften. Auch bei unterschiedlichen Interessen findet sich meist eine Schnittmenge an Gemeinsamkeiten, auf die der Diplomat mit Begründung und Argumenten hinführen muß.
- Die dritte Aufgabe ist das Sammeln von Nachrichten und Informationen. Außenpolitik beruht oft auf dem Geheimhalten bestimmter Informationen und dann der Herausgabe anderer Informationen.
- Diplomatie kann die Reibungen zwischen Staaten minimieren. Reibungen entstehen durch Differenzen von Werten, Kultur und Empfindlichkeiten verschiedener Staaten.
- Die Existenz der Diplomatie symbolisiert die Existenz einer Staatengesellschaft.
Diplomatie ist eine situtaionsangepasste Tätigkeit, wenn Staaten unterschiedliche, aber auch gemeinsame Interessen haben.
VI. Die Großmächte
Großmächte werden durch militärische oder wirtschaftliche Stärke gekennzeichnet, und ihnen werden von den anderen Staaten bestimmte zusätzliche Rechte und Pflichten zugestanden. So zum Beispiel eine Entscheidungsrolle bei Streitfragen, die das gesamte Internationale System betreffen. Das gilt nur, wenn ihnen diese Rechte von den anderen Staaten zugestanden werden, d.h. das nationalsozialistische deutsche Reich war keine Großmacht in diesem Sinne.
Der Begriff Großmacht bedingt eine Internationale Gesellschaft, und nicht ein Internationales System - also eine Gemeinschaft unabhängiger, politischer Gemeinwesen, die sowohl durch Regeln und Institutionenn, als auch durch Kontakte und gegenseitige Einflußnahme verbunden sind. Großmächte können durch zwei Arten zur internationalen Ordnung beitragen:
- Sie können ihre gegenseitigen Beziehungen zur Bewahrung der Ordnung und des Mächtegleichgewichts einsetzen. Dazu gehört die Vermeidung von Weltkriegen und die Kontrolle von Krisensituationen.
- Sie können mit ihrer militärischen Überlegenheit die Ordnung stützen.
Das ist nicht unbedingt die bestehende Realität, sondern die Möglichkeiten, die Großmächte hätten.
VII. Die Funktion des Krieges
Der Krieg ist ein allgemein akzeptiertes Verhaltensmuster, das auf die Förderung des Erreichens gemeinsamer Ziele ausgelegt ist. Er hat in der Internationalen Gesellschaft ein doppeltes Gesicht: Einerseits ist er Ausdruck von Unordnung und sollte minimiert/abgeschafft werden. Andererseits ist er ein Instrumnet staatlicher Politik, ein Mittel zur Durchsetzung des Völkerrechts und der Bewahrung des Mächtegleichgewichts.
Also: Eingrenzung der Bedrohung oder Instrument zur Verwirklichung von Zielen.
Er wird durch vier Arten begrenzt:
- Ausschließlich souveräne Staaten haben das Recht auf Kriegsführung.
- Die Art und Weise der Kriegsführung ist reglementiert.
- Durch die Einführung von Neutralitätsrechten bestimmter Staaten kann er geographisch begrenzt werden.
- Man bemüht sich, die Gründe und Anlässe zu begrenzen.
Positive Rolle:
- Einhaltung des Völkerrechts erzwingen - keiner kann das Völkerrecht in der internationalen Anarchie garantieren, außer den Staaten, die bereit sind, dafür zur Waffe zu greifen. Allerdings nur als Defensivkrieg.
- Mittel zur Bewahrung des Mächtgleichgewichts - siehe oben.
- (umstrittenes) Mittel zur Herbeiführung eines gerechten Wandels, mangels alternativer Mittel dazu.