Ruhe! Da sitze ich nun an meinem Laptop mit neuem Betriebssystem und schreibe meine Magisterarbeit. Oder besser:
ich will sie schreiben, denn meine egoistische Umwelt lässt mich ja nicht. Ich
bin gerade an einem Punkt in meiner Arbeit angekommen, der größte Sorgfalt
erfordert. Da müssen Wahlergebnisse analysiert, Parteigründungsdaten bewertet
und mögliche Folgen für das politische System abgeschätzt werden.
Und da sind
wir schon beim ersten Problem: dem wissenschaftlichen Expertendiskurs über die
Problematik mit dem Namen tschechisches Parteiensystem. Ich sehe ja ein, dass
sich die Damen und Herren Experten nicht in jedem Punkt einig sein können; der
eine schätzt beispielsweise Zukunftsaussichten rosiger ein als der andere. Der
dritte wiederum benutzt einen völlig anderen Theorie-Ansatz.
In der Literatur umstritten? - Ruhe!
Finde ich ja alles
schön und gut, denn erstens gibt das meiner Arbeit einen Hauch von Wissen, wenn
ich gewisse, im Studium eingeübte Floskeln wie "gerade dieser Punkt ist in der
Literatur umstritten" einfließen lassen kann. Zweitens streckt jeder neue Ansatz
meinen Theorieteil und ergo meine Seitenzahl, was mich nicht unbedingt
stören kann. Aber wenn sich die vermeintlichen Kenner der Materie über meiner
Meinung nach so unumstößliche Zahlen wie Wahlbeteiligung, Stimmenanteile oder
Gründungsdaten streiten, will ich am liebsten dazwischen gehen und "Ruhe!"
schreien. Und dann gekonnt jeden ignorieren, der keinen exotischen Namen trägt.
Denn Zdenka, Karel oder Attila sind einfach wegen ihrer Abstammung schon näher
dran am Geschehen.
Aber auch in meiner Nachbarschaft scheint eine Verschwörung
im Gange zu sein. Ich wohne wahrscheinlich an einem akustisch hochempfindlichen
Punkt in einem Hinterhof im Münchner Glockenbach-Viertel und kann so jede Regung
in den umliegenden Häusern nachvollziehen.
Madrigale trällern schief im Hinterhof
Da gibt es zum Beispiel den Mann mit
dem schönen Tenor im Hof schräg gegenüber, der den lieben langen Tag Madrigale
vor sich hin trällert. Das wäre wirklich angenehm, wenn sie denn richtig gesungen
wären. Leider hat sich in sein Lieblingslied ein Fehler eingeschlichen, den er
wahrscheinlich noch nicht bemerkt hat. Ich aber. Ich umso mehr. Es ist immer der
Schlußton, dieser verdammte Schlußton, der sein hübsches Liedchen so hässlich
enden lässt. Und immer wenn ich höre, dass mein Nachbar wieder anfängt zu
singen, ist meine Konzentration dahin, weil ich nur noch darauf warte, ob er
dieses Mal den letzten Ton richtig trifft.
Außerdem stärkt seit ein paar Wochen
die neugeborene Pauline weniger melodisch als der Madrigal-Mann ihre Lungen mit
kräftigem Geschrei. Das wird dann nur noch vom Nachbarn aus dem Eckhaus
übertönt, der den Rest des Viertels mit den türkischen Top-Ten beschallt. Und
wenn die Frau aus dem zweiten Stock im Haus vor mir aus irgendeinem Grund auf
die Welt sauer ist, dreht sie den "Ring der Nibelungen" auf volle Lautstärke.
Ring der Niebelungen vs. Russische Nationalhymne
Ich kontere dann meistens mit der russischen Nationalhymne. Weniger musikalisch
sind nur die kleinen Kinder aus dem Nachbarhaus, die ihre Mütter laut,
wiederholt und eindringlich darauf aufmerksam machen, wie toll sie schon Fahrrad
fahren können. Wenn ich dann mit Watte in den Ohren mich trotzdem mit
Arbeitsmaterialien auf den Hof wage und insgeheim die Tatsache verfluche, dass
ich im Spätsommer meine Magisterarbeit schreiben muss, kann ich sicher sein, dass
mir eine Nachbarin mittleren Alters begegnet.
Höflich wie sie ist, will sie mit
mir ein Gespräch beginnen. Leider dreht es sich nur um die eine Frage: "Und,
wann wirst Du denn mit Deinem Studium fertig?" Seitdem ich ihr mal entgegnete:
"Bald, wenn ihr mich nicht alle stören würdet!" schneidet sie mich, wenn wir uns
auf dem Hausflur begegnen. So konnte es nicht weitergehen. Ich trat die Flucht
an, um endlich in Ruhe arbeiten zu können. Weil meine Eltern ein kleines
Häuschen auf dem Land haben, beschloss ich, für ein paar Tage bei schönstem
Sonnenschein dorthin zu fahren.
Flucht aufs Land
Der Ort, in dem das Häuschen steht, liegt fernab
jeglicher großstädtischer Zerstreuung; ich würde also traumhafte Voraussetzungen
für meine Arbeit vorfinden. Doch - weit gefehlt. Da saß ich nun auf der
elterlichen Terrasse, um mich über die Zerstrittenheit so mancher
selbst ernannter Osteuropaexperten zu ärgern. Vor mir erstreckte sich ein großes
Gemüsebeet, durch das im nächsten Moment eine Schar aufgeregt gackernder Hühner
rannte, denen erst der dazugehörige Hahn und dann ein junger Hund folgte, der
mich Verwunderte freudig begrüßte. Was wiederum meine Katze mit einem lauten
Fauchen quittierte und dem Hund mit ihrer Pfote einen Nasenstüber versetzte.
Sein markerschütterndes Jaulen dauerte bis zum nächsten Läuten der Glocken, die in
diesem Ort alle fünfzehn Minuten bimmeln.
Leicht zeitversetzt folgten dann die
Kirchturmglocken im Nachbarort, was der Bauer auf dem Nachbargrundstück zum
Anlass nahm, sein Heu einzufahren und mir Stadtkind keine fünf Minuten später
die Augen tränten und die Nase lief. An tiefschürfendes wissenschaftliches
Arbeiten war nicht mehr zu denken. Zurück in München suche ich ab sofort
dringend einen ruhigen Ort mit Stromanschluss für mein Notebook ohne
musikalische oder in der Landwirtschaft tätige Nachbarn. Am besten auf dem Mond.
Jeder, der mir ein Angebot machen kann, soll sich bitte sofort melden.
Tagebuch einer Magisterkandidatin - Folge 8
Tagebuch einer Magisterkandidatin - Folge 10