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Tagebuch

Tagebuch einer Magisterkandidatin - Folge 9

Autor :  e-politik.de Gastautor
E-mail: redaktion@e-politik.de
Artikel vom: 09.10.2002

Madrigale, Hühner, Mähdrescher und die türkische Top Ten hindern Joyce Mariel an der Beendigung ihres Studiums.


Ruhe! Da sitze ich nun an meinem Laptop mit neuem Betriebssystem und schreibe meine Magisterarbeit. Oder besser: ich will sie schreiben, denn meine egoistische Umwelt lässt mich ja nicht. Ich bin gerade an einem Punkt in meiner Arbeit angekommen, der größte Sorgfalt erfordert. Da müssen Wahlergebnisse analysiert, Parteigründungsdaten bewertet und mögliche Folgen für das politische System abgeschätzt werden.

Und da sind wir schon beim ersten Problem: dem wissenschaftlichen Expertendiskurs über die Problematik mit dem Namen tschechisches Parteiensystem. Ich sehe ja ein, dass sich die Damen und Herren Experten nicht in jedem Punkt einig sein können; der eine schätzt beispielsweise Zukunftsaussichten rosiger ein als der andere. Der dritte wiederum benutzt einen völlig anderen Theorie-Ansatz.

In der Literatur umstritten? - Ruhe!

Finde ich ja alles schön und gut, denn erstens gibt das meiner Arbeit einen Hauch von Wissen, wenn ich gewisse, im Studium eingeübte Floskeln wie "gerade dieser Punkt ist in der Literatur umstritten" einfließen lassen kann. Zweitens streckt jeder neue Ansatz meinen Theorieteil und ergo meine Seitenzahl, was mich nicht unbedingt stören kann. Aber wenn sich die vermeintlichen Kenner der Materie über meiner Meinung nach so unumstößliche Zahlen wie Wahlbeteiligung, Stimmenanteile oder Gründungsdaten streiten, will ich am liebsten dazwischen gehen und "Ruhe!" schreien. Und dann gekonnt jeden ignorieren, der keinen exotischen Namen trägt. Denn Zdenka, Karel oder Attila sind einfach wegen ihrer Abstammung schon näher dran am Geschehen.

Aber auch in meiner Nachbarschaft scheint eine Verschwörung im Gange zu sein. Ich wohne wahrscheinlich an einem akustisch hochempfindlichen Punkt in einem Hinterhof im Münchner Glockenbach-Viertel und kann so jede Regung in den umliegenden Häusern nachvollziehen.

Madrigale trällern schief im Hinterhof

Da gibt es zum Beispiel den Mann mit dem schönen Tenor im Hof schräg gegenüber, der den lieben langen Tag Madrigale vor sich hin trällert. Das wäre wirklich angenehm, wenn sie denn richtig gesungen wären. Leider hat sich in sein Lieblingslied ein Fehler eingeschlichen, den er wahrscheinlich noch nicht bemerkt hat. Ich aber. Ich umso mehr. Es ist immer der Schlußton, dieser verdammte Schlußton, der sein hübsches Liedchen so hässlich enden lässt. Und immer wenn ich höre, dass mein Nachbar wieder anfängt zu singen, ist meine Konzentration dahin, weil ich nur noch darauf warte, ob er dieses Mal den letzten Ton richtig trifft.

Außerdem stärkt seit ein paar Wochen die neugeborene Pauline weniger melodisch als der Madrigal-Mann ihre Lungen mit kräftigem Geschrei. Das wird dann nur noch vom Nachbarn aus dem Eckhaus übertönt, der den Rest des Viertels mit den türkischen Top-Ten beschallt. Und wenn die Frau aus dem zweiten Stock im Haus vor mir aus irgendeinem Grund auf die Welt sauer ist, dreht sie den "Ring der Nibelungen" auf volle Lautstärke.

Ring der Niebelungen vs. Russische Nationalhymne

Ich kontere dann meistens mit der russischen Nationalhymne. Weniger musikalisch sind nur die kleinen Kinder aus dem Nachbarhaus, die ihre Mütter laut, wiederholt und eindringlich darauf aufmerksam machen, wie toll sie schon Fahrrad fahren können. Wenn ich dann mit Watte in den Ohren mich trotzdem mit Arbeitsmaterialien auf den Hof wage und insgeheim die Tatsache verfluche, dass ich im Spätsommer meine Magisterarbeit schreiben muss, kann ich sicher sein, dass mir eine Nachbarin mittleren Alters begegnet.

Höflich wie sie ist, will sie mit mir ein Gespräch beginnen. Leider dreht es sich nur um die eine Frage: "Und, wann wirst Du denn mit Deinem Studium fertig?" Seitdem ich ihr mal entgegnete: "Bald, wenn ihr mich nicht alle stören würdet!" schneidet sie mich, wenn wir uns auf dem Hausflur begegnen. So konnte es nicht weitergehen. Ich trat die Flucht an, um endlich in Ruhe arbeiten zu können. Weil meine Eltern ein kleines Häuschen auf dem Land haben, beschloss ich, für ein paar Tage bei schönstem Sonnenschein dorthin zu fahren.

Flucht aufs Land

Der Ort, in dem das Häuschen steht, liegt fernab jeglicher großstädtischer Zerstreuung; ich würde also traumhafte Voraussetzungen für meine Arbeit vorfinden. Doch - weit gefehlt. Da saß ich nun auf der elterlichen Terrasse, um mich über die Zerstrittenheit so mancher selbst ernannter Osteuropaexperten zu ärgern. Vor mir erstreckte sich ein großes Gemüsebeet, durch das im nächsten Moment eine Schar aufgeregt gackernder Hühner rannte, denen erst der dazugehörige Hahn und dann ein junger Hund folgte, der mich Verwunderte freudig begrüßte. Was wiederum meine Katze mit einem lauten Fauchen quittierte und dem Hund mit ihrer Pfote einen Nasenstüber versetzte. Sein markerschütterndes Jaulen dauerte bis zum nächsten Läuten der Glocken, die in diesem Ort alle fünfzehn Minuten bimmeln.

Leicht zeitversetzt folgten dann die Kirchturmglocken im Nachbarort, was der Bauer auf dem Nachbargrundstück zum Anlass nahm, sein Heu einzufahren und mir Stadtkind keine fünf Minuten später die Augen tränten und die Nase lief. An tiefschürfendes wissenschaftliches Arbeiten war nicht mehr zu denken. Zurück in München suche ich ab sofort dringend einen ruhigen Ort mit Stromanschluss für mein Notebook ohne musikalische oder in der Landwirtschaft tätige Nachbarn. Am besten auf dem Mond. Jeder, der mir ein Angebot machen kann, soll sich bitte sofort melden.

Tagebuch einer Magisterkandidatin - Folge 8

Tagebuch einer Magisterkandidatin - Folge 10


   


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