Es ist der 17. Februar 1992, gegen 17 Uhr, als die Carabinieri das Büro in der Via Marostica 8 in Mailand stürmen. Sie erwischen den sozialistischen Lokalpolitiker und Altenheim-Chef Mario Chiesa in flagranti, als er umgerechnet rund 3.500 Euro tangenti (Schmiergelder) von einem Unternehmer kassiert. Noch ahnt niemand, was sich daraus entwickeln wird.
Zunächst schweigt Mario Chiesa beharrlich, überzeugt davon, dass ihm seine Partei aus der Patsche helfen wird. Stattdessen nennt ihn Italiens Sozialisten-Chef und Ex-Premier Bettino Craxi öffentlich einen Gauner. Chiesa packt über die Sitten in Mailand aus, das bald "Tangentopoli", Stadt der Schmiergelder, genannt wird und tritt eine Lawine los, die fast die gesamte politische Klasse Italiens in den Abgrund reißt.
Antonio Di Pietro, damals Galionsfigur der Mailänder Ermittler, nennt den Fall Chiesa rückblickend "die Katzentür, durch die ich in einen schmutzigen Palast eingetreten bin", der gründlich geputzt werden musste (Zeitschrift MicroMega 1/2002). Denn nach Chiesas Festnahme bekommen es die Firmen, die Schmiergelder gezahlt haben, mit der Angst zu tun und gestehen freiwillig. Jedes Geständnis ruft mehrere neue hervor.
Das Ausmaß des Skandals wird klar
Zu Tage tritt ein gigantisches Korruptionssystem, das sich über die gesamte Republik spannt: Sind zunächst vor allem Mailänder Politiker verwickelt, so werden später auch nationale Polit-Größen sowie hochrangige Manager in Handschellen abgeführt. Insgesamt werden gegen über 3.100 Personen Strafverfahren eingeleitet. Selbst Bettino Craxi sitzt auf der Anklagebank.
Gewinner und Verlierer von Tangentopoli
Die Ermittler der Aktion "Mani pulite" (Saubere Hände), allen voran der junge Mailänder Staatsanwalt Antonio Di Pietro, werden zu Nationalhelden, Hoffnungsträgern einer zweiten, besseren italienischen Republik. Die etablierte politische Klasse hingegen hat jegliches Vertrauen eingebüßt; die seit Jahrzehnten regierenden Christdemokraten verschwinden fast völlig. An ihre Stelle tritt Forza Italia, die Pseudo-Partei des Unternehmers Silvio Berlusconi, die bei den Wahlen 1994 mit den Rechtspopulisten von Lega Nord und Alleanza Nazionale an die Macht kommt: Sie werden gewählt, weil sie sich gegen das etablierte Parteiensystem wenden und Mani Pulite lautstark unterstützen.
Erst als Berlusconi selbst ins Visier der Ermittler gerät, beginnt er mit Hilfe seiner Medien an der Mär zu stricken, Mani Pulite sei nur ein "Bürgerkrieg" linker Staatsanwälte und Politiker gegen die bürgerliche Rechte gewesen. Tatsächlich ist es ihm in den letzten Jahren gelungen, das Vertrauen in die Justiz zu schwächen. Das Klima hat sich gewandelt, zumal ein Großteil der Korruptions-Prozesse im Sande verlief.
Was heute von Tangentopoli bleibt
So fällt das Fazit vieler italienischer Zeitungen nach zehn Jahren Tangentopoli ernüchternd aus. Vom Spiegel-Pendant L'Espresso grinst dem Leser unter dem Titel "Die Illusion der Sauberen Hände" als feiste Karikatur der selbst der Korruption verdächtigte Regierungschef Silvio Berlusconi entgegen. Für viele Italiener ist er Symbol dafür, dass Mani Pulite Köpfe und Parteien, nicht aber die schmutzigen Regeln der Politik ausgetauscht hat.
"Die Geschäftemacher [von damals - Anm. des Autors] sahen sich ohne politischen Schutz und beschlossen daher, selbst direkt in die Politik zu gehen", äußert sich Antonio di Pietro gegenüber der Tageszeitung La Repubblica. "Jetzt müssen sie keine Schmiergelder für Ausschreibungen bezahlen, sondern entscheiden selbst über sie." Oder erlassen sich gleich Gesetze nach ihrem Geschmack: Berlusconis Kabinett verabschiedete ein Gesetz, das Inhabern von schwarzen Konten im Ausland die Rückführung ihres Geldes nach Italien erleichtert.