Der zweite Schritt hin zu selbständiger Gesetzgebung ist aber nicht ohne Verfassungsänderung zu bewerkstelligen und wird folglich an die Bedingung gekoppelt, dass bis dahin die politische Gewalt ein Ende genommen hat. Vorerst muss sich die Regionalversammlung mit einer Übergangslösung begnügen: Ihr Exekutivrat - sozusagen die Inselregierung - darf beim nationalen Gesetzgeber den Antrag stellen, zum einen bei den Durchführungsbestimmungen zu den Gesetzen abweichende Regeln zu treffen und zum zweiten bei zu verabschiedenden Gesetzen eine Experimentierklausel einfügen zu lassen, wonach das Gesetz zur Anwendung auf der Insel durch die Regionalversammlung "angepasst" werden kann.
Die jüngere Rechtsprechung des Verfassungsgerichts schien diese zaghaften Versuche hin zu einem legislativen Eigenleben zu decken. Voraussetzung ist allerdings, dass der Pariser Gesetzgeber Herr des Verfahrens bleibt. Die Anpassungsmaßnahmen werden überwacht und gegebenenfalls korrigiert. Namentlich erlaubt das erweiterte Statut, vom Gesetz über den Küstenschutz in Ausnahmefällen abzuweichen, was den französischen Grünen wenig schmeckt. Viel Beachtung findet auch Artikel 7: Es soll regelmäßig und flächendeckend Unterricht der korsischen Sprache im normalen Stundenplan angeboten werden; allerdings soll der Unterricht nicht obligatorisch sein, wie es die nationalistischen Vertreter Korsikas gern gesehen hätten. Der Rechtsausschuss der Nationalversammlung schwächte den Text zugunsten einer fakultativen Teilnahme ab. Außerdem sollen manche Kompetenzen, die zwischen Staat und Region aufgeteilt waren, bei der Region gebündelt werden. Bei alledem bleibt der Zweifel, ob die Regionalversammlung künftig besser funktioniert als bisher, nur weil sie zusätzliche Rechte hat. Das politische System wird eben nicht nur vom Buchstaben des Gesetzes bestimmt.
Die schwerste Hürde steht noch bevor
Insgesamt sind mit diesem Gesetz wohl mehr Begehrlichkeiten geweckt als befriedigt worden: manch Abgeordneter der bürgerlichen UDF wurde in letzter Minute damit gelockt, dass man die Experimentierklausel auch auf andere Regionen ausweiten könnte. Die korsischen Nationalisten kaprizieren sich schon jetzt auf den in ihren Augen wesentlicheren Schritt im Jahre 2004 und lassen von den Forderung nach einer Anerkennung des korsischen Volkes und der Freilassung der inhaftierten Nationalisten nicht ab. Die anderen, überwiegend Frankreich-treuen Parteien fürchten eine Gebietsreform, die ihnen ihre angestammten Ämter auf der Ebene der beiden Départements - traditionell die wichtigsten Gebietskörperschaften im französischen Staatsaufbau - rauben könnte.
Je mehr sich die in "Le Monde" geäußerte Einsicht eines Verfassungsrechtlers durchsetzt, dass "99% des erweiterten Korsika-Statuts auf ganz Frankreich angewendet werden können", umso mehr richtet sich das Augenmerk auf den zweiten Schritt, den die Zentralisten scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Die Akte Korsika ist jedenfalls zur Wiedervorlage bestellt. Jospin will dann selbst für die nötige präsidentielle Unterstützung sorgen: Zieht er in den Elysee-Palast ein, will er die weitere Dezentralisierung des Landes und damit auch die Causa Korsika zur Chefsache erklären.
Das Korsika-Dossier
Essay "Korsika - Eine mittelgroße Insel spaltet die Grande Nation":
Teil Eins
Teil Zwei
Teil Drei (mit Diskussionsforum)
Hintergrund zu Korsika:
Korsische Kultur zwischen Diskriminierung und Symbolismus
Bomben für die Freiheit - Geschichte der Attentate
Korsische Wirtschaft: bescheidener Wohlstand in Abhängigkeit
Das politische System Korsikas und seine Geschichte
Rotes Tuch Föderalismus - Korsika als Testfall