45 Quadratmeter misst die Sozialwohnung in einem Pariser Vorort. Ihre Bewohnerin: Arlette Laguiller, ihres Zeichen eine der außergewöhnlichsten und gefürchtetsten Konkurrentinnen für Jacques Chirac und Lionel Jospin.
Wie ein Relikt aus alten Zeiten mutet sie an. Doch Arlette, wie sie von allen nur genannt wird, erfreut sich größter Popularität. Umfragen rechnen ihr bis zu zehn Prozent der Wählerstimmen zu. Bei ihrer "Rekordwahl" - kein anderer Politiker kandidierte so oft für das höchste Staatsamt - könnte sie vor allem Jean-Pierre Chevènement und Jean-Marie Le Pen die Ehre streitig machen.
Am Ende die "Internationale"
Und: Das Überleben der kommunistischen Partei unter Robert Hue steht auf dem Spiel, wenn die erste Frau, die jemals für das Staatspräsidentenamt kandidierte, im Rennen um die Wählergunst besser abschneidet. Sie verkörpert eine "ausgestorbene Art" von Politikern, wie man sie auf der gesamten europäischen Politikbühne nicht mehr findet: Arlette Laguiller ist die letzte populäre Trotzkistin. Und so beginnt sie auch alle ihre Reden mit der Anrede "travailleurs et travailleuses", Arbeiter und Arbeiterinnen, die Faust in den Himmel gereckt. Am Ende der Veranstaltung singt sie die Internationale.
Auf Stellenstreichungen folgt Verstaatlichung
Woher kommt diese Popularität der kleinen Dame, die mit ihrer bubenhaften Frisur und dem verschmitzen Lächeln die Menschen quer durch alle Gesellschaftsstufen für sich einnimmt? Ein detailliertes Programm hat sie nicht vorzuweisen. Aber ihre festen Forderungen vertritt sie immer wieder aufs neue: Unternehmen, die Profit abwerfen, dürfen keine Mitarbeiter entlassen. In einem Unternehmen ohne Profit haben die Manager versagt und müssen ausgetauscht werden. Ein Unternehmen, das profitabel arbeitet und trotzdem Angestellte entlässt, wird verstaatlicht. Ebenso alles Kapital, das nicht in die Produktion einfließt. Jedem Bürger steht zudem ein Mindestlohn zu und das Bankgeheimnis muss aufgehoben werden.
So einfach ist das. Diese Thesen, die wie aus einer anderen Zeit klingen, verbreitet sie mit fester Stimme im Volk - immer die "travailleurs et travailleuses" im Auge.
Arlette - das Glück für die "Lutte ouvrière"
Arlette Laguiller ist die perfekte Führungsfigur für die trotzkistische Formation in Frankreich. Die eigentliche Führung aber hat Robert Barcis inne, ein weitest unbekannter Mann, der oftmals auch nur unter dem Pseudonym "Hardy" auftritt und veröffentlicht. Seine "lutte ouvrière" - im Deutschen etwa "Klassenkampf" - mit ihren rund 1.000 Mitgliedern ist schwer durchschaubar - manche Beobachter sprechen sogar von beinahe sektenähnlichen Verhältnissen.
Ohne Arlette wären die Trotzkisten schon lange in der Versenkung verschwunden, aber die 62jährige ist die Idealbesetzung für diese Partei: Sie verkörpert den Arbeiterstand, dem nach ihren Worten immer diejenigen angehörten, die unter der Politik in Frankreich zu leiden hatten: Aufgewachsen in einer Wohnung, wie sie sie heute noch bewohnt, wollte Arlette Laguiller eigentlich Lehrerin werden. Da das Geld für die Ausbildung fehlte, fing sie bei der Bank Crédit Lyonnais an - und blieb dort 40 Jahre als einfache Angestellte beschäftigt. Die Franzosen lieben sie dafür, sie ist die Rebellin, die gegen den Politiksumpf und gegen eine männliche Übermacht ankämpft.
Lieber keine Stimme als eine verratene Stimme
Lionel Jospin möchte sich diesen Kampf am liebsten zu Nutzen machen. Die Stichwahlen am 5. Mai schon fest im Blick, forderte er die Anhänger Arlettes schon im Wahlkampf auf, dann doch bitte für ihn zu stimmen - schließlich ließe sich seine Politik noch eher mit ihren Überzeugungen vereinbaren, als die Chiracs. Arlette konterte gewohnt souverän: Sie forderte ihre Anhänger zur Wahlenthaltung bei der möglichen Stichwahl auf: Die Politik der "Bosse und Banken" werden von jedem anderen Kandidaten vertreten, deshalb lieber keine Stimme als eine Stimme, die die Anliegen der "travailleurs et travailleuses" verraten würde.
Grafik: Montage von Timour Chafik
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