Seit Jahren ein gewohntes Bild: alljährlich im Juli, wenn sich die Marschsaison in Nordirland ihrem Höhepunkt nähert, scheinen die Fortschritte des Friedensprozesses vergessen und die Mentalitäten eines über 30jährigen blutigen Konflikts mit mehr als 3000 Toten Wiederauferstehung zu feiern.
Nordirland befindet sich im Umbruch
Doch dieses Bild trügt. Auf der einen Seite haben diejenigen, die mit Gewalt auf dem Recht der freien Meinungsäußerung, der Versammlungsfreiheit und der Gleichberechtigung (wenn nicht Überlegenheit) ihrer kulturellen Tradition bestehen, den Friedensprozess nie als den ihren gesehen, sondern immer als einen Mechanismus, mit dem es der nationalistischen Bevölkerungsgruppe in Nordirland letztendlich gelingen würde, die Provinz mit der Republik Irland zu vereinen.
Auf der anderen Seite ist die Zahl dieser unversöhnlichen Gegner jeden Ausgleichs immer geringer geworden, und die größte Zahl der Proteste und Paraden in den vergangenen tagen verlief durchaus friedlich.
Zwischen 1996 und 1998 kam es regelmäßig zu schweren Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei mit zahllosen Verletzten sowie einem ermordeten katholischen Taxifahrer 1996 und drei getöteten Kindern 1998, die in ihrem Haus nach einem Brandanschlag starben. Ein solches Ausmaß an Gewalt hat Nordirland im vergangenen und in diesem Jahr nicht mehr gesehen.
Radikalisierung unzufriedener Hardliner
Die Gefahr, die von den Märschen bzw. ihrer Unterbindung ausgeht, ist vor allem die der Radikalisierung unzufriedener Hardliner, die das vorhandene Konfliktpotential bewusst nutzen, um weitere Fortschritte im Friedensprozess zu verhindern.
Loyalistische paramilitärische Verbände erhalten hier die Gelegenheit, ihre grundlegende Ablehnung des Karfreitagsabkommens mit Fragen der kulturellen Traditionen und Identitäten zweier sich über die Jahre zumindest partiell näher gekommenen Volksgruppen zu verknüpfen. Ganz offensichtlich verbunden ist damit die Hoffnung, die nordirische Gesellschaft in die alte Polarisierung zwischen Unionisten und Nationalisten zurückzuführen.
Ironischerweise teilen sie diese Hoffnung mit Dissidenten im republikanischen Lager. Das alte Denkmuster greift nur noch bedingt. Gleichfalls verunsichert, hegen sie ein ebenso tiefes Misstrauen gegenüber dem ‘neuen’ Nordirland. Deren Frustration über die mangelnden Fortschritte des Friedensprozesses, besonders im ökonomischen Bereich mit nach wie vor nahezu doppelt so hoher Arbeitslosigkeit unter Katholiken, sucht ebenfalls nach einem Ventil.
Kontraproduktive Gewalt
Und genauso ironisch ist es, dass eine direkte Konfrontation zwischen den Radikalen auf beiden Seiten kaum zu erwarten ist. Loyalisten attackieren in erster Linie die nordirische Polizei, für deren Erhalt, Namen und Symbole sie im gleichen Atemzug kämpfen, und katholische Zivilisten. Gewalttätige Republikaner versuchen ihre Macht mit Anschlägen gegen Institutionen des Oranier-Ordens, Armeeeinrichtungen in Nordirland und erst kürzlich mit einem Bombenattentat in London unter Beweis zu stellen. Sie zielen damit auf dieselbe Armee und denselben Staat, die gleichzeitig ihre Bevölkerungsgruppe vor dem verhassten Triumphgehabe der Märsche des Oranier-Ordens schützen.
Vor allem mit den direkten Attacken gegen Zivilisten der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe wird eine Rückkehr in die Zeit der vertrauten ethnischen Grabenkämpfe versucht. Aber diese Taktik stößt mehr und mehr auf Widerstand, auch im jeweils eigenen Lager.
Vorbei sind die Zeiten, in denen der jetzige Erste Minister David Trimble von der größten unionistischen Partei an der Spitze einer Parade des Oranier-Ordens marschiert. Und selbst Vertreter der zweitwichtigsten unionistischen Partei, der Demokratischen Unionisten des radikalen Gegners jeden Ausgleichs Ian Paisley, waren in diesem Jahr nicht auf den Barrikaden zu sehen, sondern riefen zu Gewaltfreiheit auf. Gleichzeitig haben die IRA-nahe Sinn Féin und die moderaten Nationalisten der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Nordirlands unter Führung von Friedensnobelpreisträger John Hume ihre Anhänger zur Zurückhaltung aufgerufen.
Polarisierung wird zur Selbstisolierung führen ...
Das Problem der Paraden und Märsche wird Nordirland noch über Jahre haben, da es zu tief an die Grundsubstanz der Identitäten beider Bevölkerungsgruppen geht. Doch je nachhaltiger die Widersprüche in der Strategie der Gegner eines friedlichen Miteinanders im politischen Diskurs von Parteien beider Lagern thematisiert werden und je offensichtlicher eine Politik der Kooperation und nicht der Konfrontation Früchte zu tragen beginnt, desto mehr wird die Unterstützung für radikale Gruppierungen schwinden. Und der Versuch der Polarisierung wird in die Selbstisolierung führen.
Dr. Stefan Wolff, 31, ist Politologe am Fachbereich für Europastudien der University of Bath (Großbritannien).