Eine Uni-Romanze pár excellence: er sitzt in einem Seminar an dem einzigen Tisch, an dem noch ein weiterer Platz frei ist. Sie ist spät dran und setzt sich neben ihn. Und er lässt nicht locker, bis die beiden fünf Monate nach Seminarbeginn ein Paar werden. Das war im Oktober 2000; seitdem sind sie zusammen. Klingt kitschig? Unrealistisch? Wie aus einem College-Film? Wie von einem Hollywood-Drehbuchautor? Falsch: das Amerikanistik-Seminar hieß "Internet and Total News" und der Typ, neben den ich mich gesetzt habe, ist jetzt mein Freund Thomas.
Neben hundert Millionen anderen Eigenschaften liebe ich an ihm, dass man mit ihm so herrlich blödeln kann. Dabei verwischten schon immer die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. Leider werden wir zurzeit oft von unserem eigenen Unsinn eingeholt.
Thomas arbeitet an der Aktualisierung eines Lexikons, das möglichst genau alle Serien erfassen soll, die jemals im deutschen Fernsehen gelaufen sind. Und ich schreibe bekanntlich an meiner Magisterarbeit, die sich mit der Entwicklung eines Mehrparteiensystems in der Tschechischen Republik beschäftigt. So kommt es, dass der Sinn unserer Gespräche nur noch auf der nach oben offenen Nonsens-Skala gemessen werden können. Ihr wollt Beispiele? Bitteschön: Sagt Thomas: "Heute sind endlich die Marsianer mit Pfiff angekommen - ach, und den kleinen Mönch muss ich noch aktualisieren." Darauf ich: "Super, hat ja auch lange genug gedauert."
Die Hávels demokratisieren den Mars
Dieses Gespräch kann dann noch lange genug weitergeführt werden, um anderen Leuten den Eindruck zu vermitteln, dass wir uns in einer Art Geheimsprache unterhalten und eigentlich einen terroristischen Anschlag planen. Zu anderem Anlass sage ich: "Weißt Du, da gibt es einen Fluss. Auf der einen Seite sind die mit dem niedrigen Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Und auf der anderen Seite die mit dem hohen." Thomas hat verstanden: "Ah, und gerade robbt ein völlig durchnässter Ungar erschöpft ans reiche Ufer." Alles klar? Allerdings befürchte ich, dass wir uns erst im Anfangsstadium befinden. Ernsthafte Sorgen müsste ich mir erst machen, wenn ich fest von meiner Mission überzeugt wäre, den Mars demokratisieren zu müssen und Thomas nicht davon abzubringen wäre, die Sendedaten der Erfolgsserie "Diese Hávels" zu recherchieren.
Und dass Wahnsinnsstufe zwei durchaus möglich ist, habe ich bereits während der Vorbereitungsphase zur Zwischenprüfung eindrucksvoll bewiesen. Ich bin während dieser Zeit in meine jetzige Wohnung gezogen, weswegen natürlich eine gepflegte Einweihungsfeier fällig wurde. Die Party war bereits in vollem Gange als ich zu einem Gast mit einem Blick auf das Büffet meinte: "Hey, wenn Du Hunger hast, bedien Dich bitte. Hier herrscht ein self-help system."
Während ich mich für mein Biologieabitur lernte, war ich von dem Gedanken besessen, Pflanzen gießen zu müssen, um die Abläufe bei der Photosynthese endlich verstehen zu können. Ein befreundeter Jurist wurde kurz vor seinem ersten Staatsexamen unerträglich, weil er alltägliche Situationen im haarspalterischen Gutachtenstil schilderte. Und richtig klar wurden mir Aristoteles´ Werke erst, als ich mit einem befreundeten Politologen zu der Erkenntnis kam, dass Bienen nicht der amerikanische Verfassung lesen können.
Realitätsverlust vor dem Fernseher
Aber das ist noch gar nichts gegen den Fall eines Promotionskandidaten in Philosophie. Er schrieb, als mir der Fall von seiner Mitbewohnerin geschildert wurde, gerade an seiner Doktorarbeit, die sich mit der These beschäftigte, inwieweit Gänsefüßchen Unwirklichkeit in die Realität bringen, woran zweifellos sein Realitätssinn gelitten haben muss. Jedenfalls konnte man laut seiner WG-Genossin mit ihm nicht mehr fernsehen. Ständig hinterfragte er die Dinge, die für jeden normal denkenden Menschen glasklar waren. Ich hoffe nur für ihn, dass er sich nicht eines Tages gefragt hat, warum er atmet und sich keine Antwort geben konnte.
Angenehm wäre es allerdings, Nutznießer eines Ticks von Absolventen des Faches Freizeitgestaltung zu sein. Dieses Fach gibt es wirklich; eine polnische Bekannte hat darin ihren Abschluss gemacht, bevor sie nach Deutschland kam, um Politikwissenschaft zu studieren. Richtig gefährlich werden allerdings nur die Examenskandidaten des Faches Medizin.
Vielleicht bilde ich mir es ja nur ein, aber ist euch auch schon mal aufgefallen, dass angehende Zahnmediziner wie verzückt auf das Gebiss ihres Gesprächspartners starren? Oder dass selbige jeden detailliert über die Bakterienflora im menschlichen Mund aufklären können, wenn sie ein knutschendes Pärchen sehen? Misstrauisch werden sollte man, wenn man von einem jungen Menschen mit wirrem Blick, weißem Kittel und gezückter Spritze verfolgt wird; es könnte sich um einen Humanmedizinstudenten handeln, der für die Prüfungszulassung noch Leichen sezieren muss. Oder wenn in der Nähe der tiermedizinischen Fakultät wieder vermehrt Zettel hängen, dass niedliche kleine Hunden und Katzen von ihren Besitzern vermisst werden. Man weiß ja nie, wozu das Prüfungsgeplagte Hirn so fähig ist.
Tagebuch einer Magisterkandidatin - Folge 7
Tagebuch einer Magisterkandidatin - Folge 9