Eine wesentliche Leistung der französischen Revolution war es, die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz durchzusetzen. Und das hat in Paris verbindlich für die gesamte Republik verabschiedet zu werden. Legislative Kompetenzen an Regionen abzutreten hieße für einen echten Jacobinisten, in prärevolutionäres Provinzfürstentum zurückzufallen. 212 Jahre nach dem Sturm auf die Bastille geraten die Puristen der Doktrin aber immer mehr in die Defensive.
"Die [Verfassungsbestimmung der] Unteilbarkeit der Republik verbietet jeden internen Föderalismus; der Gesetzgeber kann deshalb (auch) Korsika keine Struktur verleihen, die daraus einen autonomen Staat im Rahmen eines föderalen Frankreichs macht; gemäß [der Verfassungsbestimmung] der Integrität des Staatsgebiets kann das nur auf dem Wege der Sezession gemäß Artikel 53 der Verfassung unter Zustimmung der betroffenen Bevölkerung geschehen".
Grenzen für die Politik
Das Zitat entstammt dem Urteil des Französischen Verfassungsrates vom 25.2.1982 zum von der Opposition angefochtenen Dezentralisierungsgesetz und setzte der Politik präventiv die Grenzen. An dieser Rechtsauslegung hat sich im Wesentlichen bis heute nichts geändert. Gesetzgeberische Kompetenzen bleiben Paris vorbehalten. Die angestrebte Dezentralisierung durfte also auch künftig nicht mehr sein als eine Verlagerung von Verwaltungskompetenzen auf Gebietskörperschaften unterhalb des Staates.
Damit einher ging eine Demokratisierung der Verwaltung, denn die zu Gebietskörperschaften erhobenen Regionen bekamen nach dem Vorbild der Départements direkt gewählte Versammlungen, die die Selbstverwaltungsrechte ausüben sollen. In der französischen Verfassung werden die Regionen übrigens nicht genannt. Artikel 72 kennt nur Gemeinden, Départements und überseeische Gebiete. Entsprechend der Bestimmungen dieses Artikels wurden die Regionen per Gesetz geschaffen und genießen keine Bestandsgarantie.
Im Jahre 1991 wurde die Causa Korsika anlässlich des neuen Statuts von den oppositionellen Senatoren wieder vor den Verfassungsrat getragen. Während die Kompetenzübertragungen kein Problem darstellten, stieß man sich an der Begründung: Die im Statut anerkannte Existenz des korsischen Volkes als Teil des französischen durfte nicht als Grund für die Übertragung von Rechten herhalten, wohl dagegen die Insellage, die besondere Maßnahmen geeignet scheinen lässt. Wiederum sah man die Unteilbarkeit der Republik gefährdet, wollte man Sonderrechte aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe gewähren. Die beanstandete Zeile musste aus dem Gesetz gestrichen werden, ohne dass sich daraus materielle Konsequenzen ergeben hätten. Freilich gibt es in der Jurisprudenz immer mehr Stimmen, die die rigide, auf strikte Einheitlichkeit bedachte Auslegung der Verfassung kritisieren.
Beginn einer neuen Dezentralisierungswelle ?
Der Verfassungsrat selbst schuf im Juli 1993 ein kleines Schlupfloch, das es immerhin ermöglicht, in eng definierten Grenzen von Gesetzen abzuweichen. Eine Experimentierklausel soll in einzelnen Fällen erlauben, im Rahmen der zugewiesenen Kompetenzen von Gesetzen abzuweichen. Der nationale Gesetzgeber muss allerdings die Oberhand behalten, indem er nachträglich prüft, ob sich die Maßnahme bewährt hat und sie gegebenenfalls aufhebt. Korsika wurde jetzt als Experimentierfeld auserkoren. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass auch andere Regionen in den Genuss des "Rechts zur Abweichung" kommen könnten. Das Ende der Fahnenstange scheint damit noch nicht erreicht: Premier Jospin hat für das Jahr 2004 eine Verfassungsänderung in Aussicht gestellt, die es Korsika ermöglichen sollte, autonom Gesetze zu verabschieden. Voraussetzung: Die politische Gewalt muss aufhören.
Unter immer mehr, wenngleich beileibe nicht allen Politikern scheint auch die Einsicht zu wachsen, dass die Dezentralisierung einen neuen Impuls braucht. Anlässlich einer Parlamentsdebatte über die Aufnahme der vom Verfassungsrat formulierten Experimentierklausel in das kodifizierte Verfassungsrecht fragte eine Abgeordnete der bürgerlichen UDF, ob es wohl Frankreich gelungen wäre, einen Landesteil nach dem Vorbild Deutschlands zu integrieren. Sie zeigte sich skeptisch und trat dafür ein, mehr Kompetenzen zu deligieren. Andernfalls drohe eine Überlastung der Zentrale, wenn sie sich um Fragen kümmern müsse, die nur einzelne Landesteile betreffen. Es scheint, als hätte zumindest das Subsidiaritätsprinzip seinen Weg nach Frankreich gefunden. Jospin jedenfalls will die weitere Dezentralisierung zum Thema seiner angestrebten Präsidentschaft machen.
Das Korsika-Dossier
Essay "Korsika - Eine mittelgroße Insel spaltet die Grande Nation":
Teil Eins
Teil Zwei
Teil Drei (mit Diskussionsforum)
Hintergrund zu Korsika:
Korsische Kultur zwischen Diskriminierung und Symbolismus
Bomben für die Freiheit - Geschichte der Attentate
Korsische Wirtschaft: bescheidener Wohlstand in Abhängigkeit
Das politische System Korsikas und seine Geschichte
Rotes Tuch Föderalismus - Korsika als Testfall