Als der mittlerweile aus dem Amt geschiedene Verteidigungsminister Rudolf Scharping vor vier Jahren die größte Bundeswehrreform aller Zeiten ankündigte, vermuteten die meisten Beobachter lediglich ein weiteres Strohfeuer. Heute stehen Bundeswehrsoldaten auf dem Balkan, in Afghanistan oder patrouillieren vor dem Horn von Afrika. Doch was hat sich wirklich geändert?
Neue Ausrüstung - neue Fähigkeiten
Es sind die Details, die den Auftragswandel der Bundeswehr erkennen lassen. Das neue Sturmgewehr G-36 ist kleiner, leichter und dadurch deutlich besser zu handhaben. Im Gegensatz zum alten G-3 können Soldaten einfacher als Kontrollposten, Patrouille oder Spähtrupp agieren. Werden beide Hände benötigt, hängt die Waffe gesichert vor dem Körper, und ist jederzeit griffbereit um in Anschlag zu gehen. Dies hat sich vor allem bei den Fahrzeugkontrollen im Kosovo und in Mazedonien als enormer Vorteil im Gegensatz zum schwereren und rückstoßstärkeren G-3 erwiesen.
Neue Aufträge - neue Ausbildung
Den größten Aha-Effekt erlebt man bei der Teilnahme an einer Ausbildung für Auslandseinsätze. Selbst für ehemals in der Sicherungstruppe der Luftwaffe eingesetzte Soldaten stellen die verschiedenen Szenarien in der Übung ein überraschend neues Tätigkeitsprofil der Bundeswehr dar. Ging man früher vom Schutz einer klar umrissenen Zone aus, die man an den Rändern durch Kontrollposten oder Gefechtsstellungen sicherte, ist heute viel mehr Flexibilität gefragt. Die eingegrenzte Zone ist zum Straßenrand in Prizren geworden, an dem man Fahrzeuge nach ungemeldeten Waffen untersucht. Der klar erkennbare Feind ist zum unscheinbaren Mechaniker, Landarbeiter oder Familienvater mit Frau und Kind mutiert, und offen im Zivilfahrzeug mitgeführte Waffen sind nicht mehr automatisch eine Bedrohung.
Und das macht den Wandel aus. Früher hätte man direkt auf eine solche Situation mit Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung reagiert. Heute muss man im dichten Stadtverkehr, umringt von neugierigen, zum Teil aufdringlichen Zivilisten, deren Sprache man nicht versteht, auf undurchsichtige Problemsituationen eine angemessene Antwort finden. Der Polizeicharakter solcher Einsätze ist unverkennbar. Der Waffeneinsatz gerät in den Hintergrund, wird zum zuallerletzt angewandten Mittel für die Selbstverteidigung des Soldaten, nicht für die zwingende Durchsetzung seines Auftrags.
Erfahrungsberichte - neue Herausforderungen
Dass solch spielerisch inszenierte Lagen der Realität entsprechen, bestätigen die Erfahrungen von Soldaten, die Auslandseinsätze bereits hinter sich haben. Deeskalation heißt das neue Zauberwort. Beschwichtigend auf nervöse oder aggressive Zivilisten einzuwirken, ist nur ein neuer Bestandteil in der Ausübung des Soldatenberufs. Vorbereitungen für Auslandseinsätze kommen mittlerweile einem völkerkundlichen Seminar gleich. Geschichte, Kultur und gesellschaftspolitische Grundlagen eines Einsatzlandes prägen in einem viel größeren Ausmaß die Ausbildung.
So lernt man zum Beispiel, dass die Drohgebärde einer gezückten Waffe nicht unnötig missbraucht werden darf. Gerade auf dem Balkan hat die Bundeswehr die Erfahrung gemacht, dass die reine Androhung ohne nachfolgender Umsetzung den Respekt der Bevölkerung vor den KFOR- beziehungsweise SFOR-Truppen schmälert. Dies führt zu einem Autoritätsverlust. Fahrzeugkontrollen und Streifengänge werden dadurch immer schwieriger, die Kooperationsbereitschaft der Zivilbevölkerung immer geringer. Als Alternative bleibt lediglich der direkte Tonfall und das sichere Auftreten, was für einen einzelnen Soldaten inmitten einer emotionalisierten Umgebung nicht leicht fällt, da er auf das letzte Mittel der Stärke - seine Waffe - weitestgehend verzichten muss.
Erfahrung Wehrübung - eine neue Bundeswehr
Da die aktive Dienstzeit teilweise mehrere Jahre zurück liegt, stellt eine Wehrübung eine besondere Erfahrung für Reservisten dar, heute mehr denn je. Der Wandel wird greifbar, die sterilen Medienberichte von den unterschiedlichen Einsatzorten bekommen Namen und Gesichter, und der Eindruck von einer Armee in schwierigen Zeiten verstärkt sich. Die Verantwortung der Politik gegenüber den Soldaten, vor allem denjenigen in Auslandseinsätzen, ist so groß wie nie zuvor. Die rot-grüne Bundesregierung hat die Bundeswehr auf ein neues und für sie ungewohntes Schlachtfeld geführt. Die Reformen müssen diesen neuen Anforderungen gerecht werden. Die Streitkräfte selbst tun ihr möglichstes, um sich auf die neue Lage einzustellen. Den Spagat, den die Bundeswehr, ausgehend vom alten Auftragsmuster zu den aktuellen Einsätzen vollführen muss, ist deutlich größer, als er allein von außen betrachtet erscheint.