Der ovale Saal des Goethe-Forums war bis auf den letzten Platz gefüllt und einige der italienischen und deutschen Besucher hatten nur noch auf den Treppen Platz gefunden. Weniger erfolgreich waren andere, die vor verschlossenen Türen standen.
Am Samstag, den 30. November 2002, nahm Gian Carlo Caselli, Generalstaatsanwalt von Turin, neben Moderatorin Christiane Kohl, Rom-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung, auf dem Podium des Münchner Goethe Forums Platz. Thema war die aktuelle Lage des italienischen Justizsystems und seine historischen Vorbedingungen. Eingeladen zu der Veranstaltung hatten unter anderen der Circolo Cento Fiori e.V., Mitveranstalter waren RichterInnen und StaatsanwältInnen in VERDI Bayern und das Goethe Institut.
Gian Carlo Caselli, ein älterer, weißhaariger, sehr bescheiden wirkender Herr, war von 1974 bis 1984 Staatsanwalt in Turin und verhandelte in zahlreichen Prozessen gegen die Roten Brigaden. Ab 1992 führte er als Oberstaatsanwalt in Palermo Prozesse gegen die Mafia. Über den Posten des verantwortlichen Direktors der Strafgefängnisse in Italien und die Tätigkeit in der europäischen Strafverfolgung in Brüssel führte sein Weg zurück nach Turin, wo er heute Generalstaatsanwalt ist.
Die Roten Brigaden und der Rechtsterrorismus der 60er bis 80er Jahre
Anfangs referierte Caselli über den Kampf und die Prozesse gegen die Roten Brigaden von 1973 bis 1983. Viele der Terroranschläge konnten aufgeklärt und die meisten Prozesse erfolgreich abgeschlossen werden. Bereits damals bediente sich die Justiz der pentiti, ehemaliger Terroristen, die sich zur Zusammenarbeit mit der Justiz entschlossen hatten. Diese Art einer speziellen Kronzeugenregelung führte auch im Kampf gegen die Mafia, dann mit geständigen Mafiosi, zu durchschlagenden Erfolgen.
Caselli betonte auch die Erfolge bei der Zerschlagung des terrorismo di destra, des Rechtsterrorismus, der für zahlreiche Anschläge von Anhängern des Faschismus in Italien verantwortlich war. Die Tatsache, dass viele Straftaten nicht aufgeklärt werden konnten, führte Caselli auch auf den Einfluss der Politik und der damaligen Regierungen zurück, die die Aufklärung und Strafverfolgung behinderten und vereitelten.
Der Prozess gegen Giulio Andreotti
Auf die Frage Christiane Kohls nach dem aktuellen Prozess gegen den ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti wegen Mordauftrags an dem Journalisten Mario Pecorelli wich Caselli anfangs unter Hinweis auf seine direkte Mitarbeit an diesem Verfahren in seiner Zeit in Palermo einer Antwort aus. Er betonte aber, dass die Richter und Staatsanwälte ihre Pflicht erfüllen mussten und müssen und daher gezwungen waren, diesen Prozess voranzutreiben.
Dabei spielte er auf das kürzlich gegen Andreotti ergangene Urteil von 24 Jahren Gefängnis an, das in Italien vor allem in Kreisen der jetzigen Regierung, aber auch über die Parteigrenzen hinaus zu heller Empörung und Ablehnung und Angriffen auf die Justiz geführt hatte.
Caselli betonte, dass diejenigen in Italien, die von "roten Richterroben" und Missbrauch der Justiz für politische Zwecke sprächen, entweder nicht wüssten, was sie sagten, oder es aber sehr genau wüssten und die Richter und Staatsanwälte absichtlich diffamierten und in ihrer Arbeit behinderten. Das Gerede von Verschwörungstheorien gegen die Regierung und Politik versuche lediglich die Tatsache zu verschleiern, dass gewisse Teile der Regierung und Politik über Beziehungen zur Mafia verfügen und dies von anderen Teilen in Regierung und Politik ignoriert würde.
Ist die Mafia besiegt?
Die momentane Stille um die Mafia könnte annehmen lassen, dass die Mafia nicht mehr existiere. Auch die jetzige Regierung in Italien gibt einerseits vor, die Mafia sei besiegt oder der Kampf gegen die Mafia scheine zumindest keine Priorität mehr zu besitzen. Caselli widersprach diesem Eindruck vehement. Die Mafia sei aktiv wie eh und je, mache sich zur Zeit aber unsichtbar und vermeide Aufsehen erregende Anschläge. Vielmehr wirke sie stärker im Verborgenen und ihre Verbrechen seien oft gar nicht als Mafiaverbrechen erkennbar. Gleichzeitig sei die italienische Mafia dabei, sich auch international wieder stärker zu verbreiten und die Wirtschaft zu beeinflussen, um ein Teil derselben zu werden.
Andererseits scheint die Angst vor zukünftigen Mafia-Anschlägen aber auch wieder zuzunehmen, vor allem im Umfeld der italienischen Regierung. Christiane Kohls Frage, ob die Ursache hierfür in Versprechen liege, die die Forza Italia, die politische Bewegung des italienischen Regierungschefs, vor den Wahlen der Mafia gemacht habe und die jetzt nicht eingehalten würden, blieb unbeantwortet. Stattdessen berichtete Caselli von einem von ihm nicht namentlich genannten Minister der Regierung, der öffentlich erklärt hatte, dass Italien mit der Mafia zusammenleben müsse. Diese Erklärung löste in Italien zuerst keine Reaktionen aus. Erst als die Witwe eines von der Mafia ermordeten Geschäftsmannes öffentlich diese Äußerung eines Regierungsvertreters kritisierte, sah sich der betreffende Minister gezwungen zuzugeben, einen Fehler gemacht zu haben.
Diffamierungskampagnen gegen Richter und Staatsanwälte
Als der seit Kurzem pensionierte mailänder Oberstaatsanwalt Borelli am Anfang dieses Jahres feierlich das anno giustiziario, das neue Amtsjahr der Justiz, eröffnete und sich dabei gegen die von der Regierung erhobenen Anschuldigungen gegen die Richter und Staatsanwälte wegen Parteilichkeit und Einmischung in die Politik wehrte, verließen unter lauten Protesten und Störungen Regierungsangehörige und Abgeordnete den Saal.
Im Italien unter Berlusconi hat ein Perspektivenwechsel stattgefunden. Wurde früher gegen korrupte Politiker ermittelt und verhandelt, so waren die Schuldigen die betreffenden Politiker, wenn ihnen ihre Verbrechen nachgewiesen werden konnten. Heute trifft die Schuld die ermittelnden Staatsanwälte und die Richter, weil sie ihrer Arbeit nachgehen. In letzter Zeit werden Staatsanwälte und Richter in Italien zunehmend von Seiten der Politik und der Berlusconi-Regierung angegriffen, beschimpft ("Sadisten, Folterknechte, Linksterroristen, Kommunisten") und aufgrund des Abzugs ihres Personenschutzes in etlichen Fällen auch in Lebensgefahr gebracht. Caselli verteidigte die Notwendigkeit von Unabhängigkeit und Autonomie für Richter und Staatsanwälte, um ihrer Pflicht nachgehen zu können.
Die Strukturreform der Justiz
Eines der größten Probleme der italienischen Justiz ist die lange Prozessdauer. Zeiten von 20 bis 30 Jahren sind dabei weder eine Seltenheit noch eine Übertreibung. Caselli schlug zwei nötige Veränderungen vor: Die Erhöhung der Finanzmittel für die Justiz und eine bessere Verteilung von Staatsanwaltschaften und Gerichten und des dazugehörigen Personals im Land.
Die von der Regierung bereits durchgeführte Verkleinerung des Consiglio Superiore, des höchsten Gremiums der Justiz, von 30 auf 24 Mitglieder sei dagegen kontraproduktiv. Die Destruktivität dieser Reform habe unabsehbare Folgen und müsse zwangsläufig zu einer Schwächung des Rechtssystems führen. Das für einst 10.000 Gerichtsbeamte zuständige Gremium muss sich seit längerer Zeit ohnehin um 24.000 Justizbeamte kümmern. Dies führte zu ständiger Überlastung und zu Verzögerungen in der Rechtsprechung.
Die neuen Gesetze über Bilanzfälschung und den so genannten "legitimen Verdacht"
Ähnlich verhält es sich mit den kürzlich von der Regierungsmehrheit verabschiedeten Gesetzen zur Bilanzfälschung und zur Möglichkeit der Ablehnung des Gerichtsstandortes. Caselli betonte, nicht den Gesetzgeber aburteilen zu wollen, und erläuterte anschließend die beiden Gesetze:
Bei dem Verdacht auf Bilanzfälschung dürfen die Staatsanwaltschaften nicht mehr von sich aus ermitteln, sondern der Tatbestand muss von einer Privatperson angezeigt werden. Darüber hinaus sind die Strafen für Bilanzfälschung erheblich vermindert worden.
Das Gesetz über den so genannten "legitimen Verdacht" besagt, dass ein Gerichtsstandort von einem Angeklagten abgelehnt werden kann, wenn ein legitimer Verdacht auf Befangenheit besteht. Problematisch ist hierbei die vage Formulierung "legitimer Verdacht". Laut Caselli könnte nun ein in Palermo angeklagter Mafioso Palermo als Gerichtsort ablehnen, da dort jährlich Kundgebungen zur Erinnerung an die von der Mafia ermordeten Richter Falcone und Borsellino stattfinden, an denen auch Richter und Staatsanwälte teilnehmen.
Seltsam mutet auch die Tatsache an, dass das neue Gesetz auf bereits laufende Prozesse rückwirkend anwendbar ist, was einem Grundprinzip der Rechtssetzung widerspricht.
Auf die Bedeutung der Gesetzesänderungen bezüglich der gegen Berlusconi noch anhängigen Verfahren befragt, wies Caselli daraufhin, dass derartige Gesetze zustande kommen, weil Berlusconis Verteidiger vor Gericht und die Abgeordneten der Regierungspartei dieselben Personen sind.
Standing ovations für einen Staatsanwalt
Caselli hob abschließend zusammenfassend hervor, dass das italienische Rechtssystem in Gefahr ist. Die Hauptursachen sind dabei die von der Regierung bedrohte Unabhängigkeit von Staatsanwälten und Richtern, die systematische Korruption, die Verbindungen von Mafia und Teilen der Politik, die Tendenz, Staatsanwälte und Richter zu diffamieren und delegitimieren und Ausnahmeregelungen in Prozessen gegen Politiker zu deren Gunsten.
Nach dem mehr als dreieinhalbstündigen Gespräch erhob sich das Publikum von seinen Plätzen und applaudierte Caselli stehend minutenlang.
Italien befindet sich wohl in einem Zustand, der so etwas Ungewöhnliches wie standing ovations für einen Staatsanwalt notwendig macht.
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