Die belgische Kolonialherrschaft
Will man die Entwicklungen verstehen, die sich im Laufe der Kongo-Krise ereigneten, ist ein Blick auf die Art und Weise der belgischen Kolonialherrschaft unverzichtbar. Die belgische Methode bestand darin, dass man Mägen füllte und Köpfe verriegelte. Kennzeichnend für die belgische Herrschaft war die Taktik, durch die Ermöglichung eines gewissen materiellen Wohlstands für die Bevölkerung das Bedürfnis nach Revolution und Opposition zu verhindern.
Zusammen mit der Tatsache, dass jegliche Ausbildung für die schwarze Bevölkerung abgelehnt wurde und damit jedes Verständnis für Politik und die objektive Lage des eigenen Volkes verhindert waren, wurde es möglich, dass die hier herrschenden Belgier über ein relativ hohes Maß an politischer Ruhe und Sicherheit verfügten. Bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gelang es, durch möglichst gute Abriegelung des Kongos zur Außenwelt politisches Denken zu verhindern und mit sozialer und politischer Bevormundung das System der paternalistischen Herrschaft zu erhalten.
Nationalismus und Unabhängigkeit
Nach dem Zweiten Weltkrieg trafen verschiedene Faktoren zusammen, die es schließlich nicht mehr möglich machten, dass belgische Kolonialsystem im Kongo zu erhalten.
Zwei zusammenhängende Entwicklungen waren dafür verantwortlich, dass sich die belgische Kolonie zunehmend emanzipierte.
Zum einen verlangte die wirtschaftliche Entwicklung im Kongo und neue Technologien immer mehr qualifiziertes Personal. Die neue belgische Strategie sah vor, Ausbildung nun auch für die schwarze Bevölkerung zugänglich zu machen. Obwohl dies nur in geringem Maße erlaubt wurde, bildete sich dennoch eine neue kongolesische Elite heraus.
Der Fehler der belgischen Regierung lag darin, dass man weiterhin glaubte, politisches Denken könne auch in Zukunft verhindert werden. Die Belgier verschliefen sowohl politische Entwicklungen innerhalb des Kongos als auch weltpolitische Veränderungen, so die zunehmende Entkolonialisierung großer Teile der Erde.
Die Bildung geistiger Eliten im Kongo, die offen über die Missstände im Land nachdachten, und der Kontakt zur Außenwelt schärften das Bewusstsein für die Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen im eigenen Land. Durch diese Bewegungen entstand ein Nationalismus, der immer lauter nach politischer Emanzipation rief und die Unabhängigkeit für den Kongo forderte.
In dieser Zeit sind zwei divergierende Vorstellungen über das zukünftige politische System des Kongos zu sehen; eine Auseinandersetzung, die später einen sehr großen Anteil an dem Ausbruch des Bürgerkrieges hatte. Auf der einen Seite stand die Vorstellung eines lockeren, föderativ organisierten Staates, wie ihn der spätere Präsident Kasavubu bevorzugte, auf der anderen Seite die Idee eines zentralistischen Nationalstaates, den der spätere Regierungschef Lumumba vertrat.
Bei der Verwirklichung der Zentralstaatsidee Lumumbas hätte man allerdings gewaltsam zusammengeführt, was nicht zwingend zusammengehörte, nämlich 70 unabhängigeVolksgruppen und 400 gesprochene Dialekte. Die traditionelle Autonomie der kongolesischen Stämme hätte zu Gunsten eines starken zentralen Nationalstaats weichen müssen, möglicherweise gegen den Willen der Stämme.
Dagegen hätte bei der Durchsetzung der föderativen Idee eines relativ locker organisierten Bundes der Regionen, wie ihn Kasavubu vertrat, die Gefahr der völligen Ohnmacht für die Zentralregierung bestanden. Das Gebiet wäre möglicherweise in eine Vielzahl verfeindeter Stammesgebiete zerfallen.
Bürgerkrieg und der Einsatz der Vereinten Nationen
Angesichts dieser Perspektiven war die schließlich schnelle Unabhängigkeit zwar ein kurzfristiger Erfolg, jedoch gerfährdete der überstürzte Abzug der Belgier die positive Entwicklung des Landes aufgrund der Unerfahrenheit in Politik und Verwaltung.
Zu Beginn des Jahres 1960 besiegelte man auf einer Konferenz in Brüssel das Ende der belgischen Kolonialherrschaft. Die zunehmenden Spannungen und Probleme hatten in Belgien die Überzeugung reifen lassen, dass die Aufgabe der Kolonie die einfachste Lösung darstellte. Schon am 30. Juni war der Kongo ein freies Land mit einem Parlament und einer Exekutive, bestehend aus Präsident Kasavubu und seinem Gegenspieler Premierminister Lumumba. Zu diesem Zeitpunkt bereits trafen hier eine Reihe von Faktoren zusammen, die das Land in das Chaos stürzten:
Schon vor der offiziellen Unabhängigkeit brachen im Land Differenzen zwischen einzelnen Stämmen auf. Außerdem "neutralisierten" Kasavubu und Lumbumba ihre ohnehin schon schwache Zentralgewalt aufgrund ihrer unterschiedlichen Anschauungen. Dieser Streit erleichterte später den Putsch des Generals Mobutu.
Infolge von Forderungen der kongolesischen Soldaten in der ehemals belgischen Kolonialarmee "Force publique" nach Besserstellung gegenüber den Europäern in der Armee, und weil Lumumba diese Wünsche erfüllte, entstand eine Kettenreaktion, die den Konflikt immer weiter aufheizte: Die europäische Bevölkerung, oft mit wichtigen Funktionen in Wirtschaft und Verwaltung ausgestattet, hatte Angst vor dem neu gestalteten, vermutlich feindlich gesinnten Militär und verließ fluchtartig das Land, was Wirtschaft und Versorgung zusammenbrechen ließ.
Wenige Tage später erklärte sich die reichste Provinz des Landes Katanga unter Moise Tschombé für unabhängig, nachdem Belgien zum Schutz der durch die Unruhen in Bedrängnis geratenen europäischen Bevölkerung Truppen in den Kongo geschickt hatte und daraufhin im ganzen Land Kämpfe ausgebrochen waren.
Die von Lumumba und Kasavubu um militärische Hilfe gebetene UNO verfasste daraufhin Resolution 143, die den Rückzug Belgiens forderte und die Entsendung von Truppen zur Unterstützung der kongolesischen Zentralregierung initiierte, welche schon vier Tage später, am 16. Juli 1960, eintrafen.
Aufgrund der verfahrenen Situation im Land wurde es für die UNO immer schwieriger, Recht und Ordnung wiederherzustellen:
Für die UN-Truppe ONUC (Opération des Nations Unies pour le Congo) stellte sich die Frage, was ihr Mandat genau bedeutete. Sollte sie als Helfer Lumumbas fungieren und die Sezession Katangas beenden? Aber würde das nicht gegen das Selbstbestimmungsrecht Katangas verstoßen?
Auf der einen Seite würde der Kampf gegen Katanga eine Einmischung in innerstaatliche Angelegenheiten bedeuten, was wiederum gegen die Prinzipien der ONUC verstoßen würde. Andererseits lautete das Mandat, die Regierung zu unterstützen und Recht und Ordnung wiederherzustellen. Um dies zu verwirklichen, hätte demnach der Unruheherd Katanga ausgeschaltet werden müssen.
Aus der folgenden Regierungskrise zwischen Kasavubu und Lumumba ging durch einen Putsch General Mobutu hervor, dem sich der abgesetzte Kasavubu später anschloss. Lumumba dagegen wurde schließlich festgenommen, an Katanga ausgeliefert und im Januar 1961 ermordet. Währenddessen führten die Regionen untereinander weiterhin Bürgerkrieg.
Mit der Conciliation Commission, von der UN-Generalversammlung initiiert, wurde ein neuer Versuch unternommen, um das Durcheinander zu ordnen. So konnte bis Juli 1961 das Parlament einberufen und eine Regierung unter Adoula gebildet werden, wonach sich die Lage insgesamt entspannte und sich die politischen Verhältnisse festigten.
Das Ende der Sezession Katangas
Der Konflikt um die Sezession Katangas war aber immer noch nicht gelöst. Bis Ende 1961 konnten die katangesischen Söldnerheere nicht ausgeschaltet werden. Im August 1962 legte der neue UN-Generalsekretär U Thant einen Versöhnungsplan vor, den Tschombé aber strikt ablehnte.
An diesem Zeitpunkt, so scheint es, fühlten sich die Vereinten Nationen genügend provoziert. Mit Unterstützung der USA und der Einwilligung der Sowjetunion wurden Gegenangriffe begonnen. Diese konnten aufgrund ständiger Bedrängnis aus einer Position der Selbstverteidigung geschehen und widersprachen somit nicht dem an sich friedlichen Mandat der Truppen. Politische Zugeständnisse von seiten der USA bezüglich späterer westlicher Unterstützung veranlassten Tschombé schließlich einzulenken. Die ONUC-Einheiten gingen als Sieger hervor, was im Januar das Ende der katangesischen Sezession und die Entwaffnung der Söldnertruppen bedeutete.
Die Unruhen gingen jedoch weiter, der Bürgerkrieg war im vollen Gange, als General Mobutu 1965 erneut gegen die Regierung Adoula putschte, die Verfassung außer Kraft setzte und sich selbst an die Spitze des Staates stellte.
Die UNO als Spielball des Ost-West-Gegensatzes
Während des Konflikts liefen die Vereinten Nationen Gefahr, als Spielball der Kontrahenten des Kalten Krieges missbraucht zu werden. Prowestliche Tendenzen innerhalb der Organisationen waren während des Konfliktverlaufs unübersehbar. So wurde die ONUC zunächst nicht im abgespaltenen Katanga stationiert, weil dort belgische Interessen und vor allem noch belgische Truppen – Teil der NATO - vorhanden waren. Dadurch schien es, als ob die Vereinten Nationen dem sowjetnahen Premierminister Lumumba die Unterstützung verweigerten. Als Lumumba gefangen genommen und später ermordet wurde, sorgte dies in der Folge für eine Verstimmung zwischen den Vereinten Nationen und der Sowjetunion. Diese lehnte schließlich ab, Dag Hammarskjöld weiterhin als Generalsekretär zu betrachten, weil er sich nicht ausreichend für eine Befreiung Lumumbas eingesetzt habe und damit auf der Seite des Westen stehe.
Als die Vereinten Nationen schließlich die Abspaltung Katangas mit Waffengewalt bekämpften, geschah dies im Einvernehmen mit der Sowjetunion.
Wirft man einen Blick auf die Ereignisse, die sich nach dem Abzug der ONUC-Einheiten im Kongo abspielten, so läßt sich feststellen, dass in den Jahren 1960 bis 1964 weder kurz- noch langfristige Lösungen gefunden wurden. Im Gegenteil: Der Bürgerkrieg wurde fortgesetzt und an die Spitze des Staates stellte sich der Putschist General Mobutu, der bis Mitte der 90er Jahre die Politik im Kongo diktierte. Auch der zunächst für den Befreier gehaltene Laurent-Désiré Kabila pflegt nun ebenfalls denselben Regierungsstil der Unterdrückung wie zuvor Mobutu.
Der letztendliche Misserfolg in Hinblick auf die gewollte Befreiung und Emanzipation des kongolesischen Volkes von den Verhältnissen der Kolonialherrschaft kann aber nicht den Vereinten Nationen angelastet werden. Vielmehr waren es der um sich greifende Egoismus die fehlende Bereitschaft aller Volks- und Stammesgruppen, Zugeständnisse zu machen, um die Schaffung geordneter, demokratischer Verhältnisse zu ermöglichen. Das brachte das Unternehmen schließlich zum scheitern. Niemand kann zum Frieden gezwungen werden.
e-politik.de analysiert den jüngsten Krieg im Kongo, berichtet über den möglichen Einsatz einer UN-Friedenstruppe und veröffentlicht einen Kommentar zum Beschluss der Vereinten Nationen, Blauhelme in die Demokratische Republik Kongo zu schicken.
Foto: Patrice Lumumba (1960), erster kongolesischer Ministerpräsident