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e-politik.de - Artikel
( Artikel-Nr: 731 )Gefangenenfreilassung - Umstrittener Beitrag zum Friedensprozess in Nordirland Autor : e-politik.de Gastautor Seit dem 28. Juli 2000 ist in Nordirland ein weiterer Aspekt des Karfreitagsabkommens umgesetzt: die Freilassung inhaftierter Terroristen, deren paramilitärische Organisationen ihren Waffenstillstand aufrechterhalten. Stefan Wolff analysiert. Die Befürworter des Karfreitagsabkommens wiederholen es nahezu gebetsmühlenartig: Ohne konkrete Zusagen zur Gefangenenfreilassung hätten die paramilitärischen Gruppierungen in Nordirland dem Friedensprozess niemals ihren Segen erteilt, und ohne die Aufrechterhaltung der Waffenstillstände hätte Nordirland kaum die Rückkehr zur Beinahe-Normalität geschafft, die sich bis heute entwickelt hat.
Terroristische Anschläge bleiben
Gegner der Gefangenenfreilassung hingegen sagen, dass sich eigentlich seit Mitte der 90er Jahre trotz aller Zugeständnisse an die ‚Männer der Gewalt’ kaum etwas geändert hat. Es gibt nach wie vor vereinzelte terroristische Anschläge, die allerdings jetzt in der Mehrheit von sogenannten Splittergruppen begangen werden.
In vielen der traditionell loyalistischen und republikanischen Wohngebiete haben die Paramilitärs noch immer eine Rolle, die Polizei, Staatsanwalt, Richter und Vollstrecker vereint, auch wenn es kaum noch zu Morden kommt. Und trotz der Hoffnung auf eine Ablieferung der Waffen- und Sprengstoffarsenale kontrollieren Gruppen wie die republikanische IRA und die loyalistischen Ulster Freedom Fighters unverändert Waffenbestände unbekannter Größe.
Welchen Sinn macht es in dieser Lage, gerade diejenigen freizulassen, die in der Vergangenheit unter Beweis gestellt haben, dass sie bereit und in der Lage sind, Gewalt zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele einzusetzen?
Freilassung mit Bedingungen
Da ist zum ersten das Argument, dass die Gefangenenfreilassung Teil des Karfreitagsabkommens ist. Würden die Regierungen in Dublin und London ihren Beitrag zu seiner Umsetzung nicht leisten, gäbe das den Skeptikern und Gegnern unter Republikanern und Loyalisten unter Umständen einen Vorwand, Waffenstillstandsvereinbarungen zu unterlaufen.
Zweitens sollte in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen werden, dass die Gefangenenfreilassung keinesfalls ohne Bedingungen ist. Es handelt sich im Gegenteil lediglich um eine Aussetzung der Strafe zur Bewährung, nach Ableistung einer Mindeststrafe, und auch nur für Verbrechen, die vor dem Abschluss des Karfreitagsabkommens begangen wurden. Es wird hier also keinesfalls eine "Lizenz zum Töten" ausgestellt, und es gibt eine erklärte Bereitschaft zur Reinhaftierung, wenn die entsprechenden Bedingungen nicht erfüllt werden.
Drittens kann nicht geleugnet werden, dass die paramilitärischen Gruppen, trotz ihrer nach Schätzungen nur recht geringen Größe, einen bedeutenden Einfluss auf den Friedensprozess ausüben. Das hat die britische Regierung in dramatischer Weise vor dem Abschluss des Karfreitagsabkommens anerkennen müssen, als die damalige Nordirlandministerin Mo Mowlam direkt mit inhaftierten Terroristen der Ulster Defence Association verhandelte und ihnen mehr oder weniger die Zustimmung zum Karfreitagsabkommen abrang.
Rehabilitierung von Mördern?
Es ist allerdings oft nicht einfach, diese durchaus rationalen Gründe für die Gefangenenfreilassung als Ganzes angesichts der Vielzahl der einzelnen Fälle und der mit ihnen verbundenen persönlichen Schicksale zu rechtfertigen.
Die Reihe dieser Einzelfälle ließe sich beliebig fortsetzen, und man könnte in einigen Situationen sogar ganze Ketten von Anschlägen und Vergeltungsakten identifizieren. Das alles aber macht angesichts der Situation in Nordirland recht wenig Sinn. Um es einmal drastisch zu formulieren, weder würde es auch nur einen einzigen Toten zurückbringen oder einen einzigen Verstümmelten wieder gesund machen, noch ließe sich der im Laufe von 30 Jahren an der nordirischen Gesellschaft angerichtete materielle, soziale, und psychologische Schaden wieder gutmachen.
Unsicherheit bleibt
Natürlich kann niemand garantieren, dass die jetzt abgeschlossene Gefangenenfreilassung auf lange Sicht einen positiven Beitrag zum Friedensprozess leistet.
Der konservative "Schattenminister" für Nordirland, Andrew Mackay, forderte dann auch sogleich, Johnny Adair und Michael Stone wegen Verletzung ihrer Bewährungsauflagen wieder in Haft zu nehmen.
Andererseits stimmt es schon eher optimistisch, dass andere führende Mitglieder der paramilitärischen Gruppierungen und der sie repräsentierenden politischen Parteien durchaus die Einmaligkeit der sich ihnen hier bietenden Chance begriffen zu haben scheinen – nicht nur der der Gefangenenfreilassung, sondern auch der des Friedensprozesses.
Ohne Aufrechnung der Vergangenheit in die Zukunft
Wieder einmal so scheint es, steht Nordirland an einem Scheideweg. Und, vereinfacht gesagt, besteht die Wahl wieder zwischen Aufrechnung der Vergangenheit und einer unkonventionellen und keineswegs risikolosen Alternative, die das Versprechen einer besseren und friedlicheren Zukunft in sich trägt, ohne dergleichen zu garantieren. In der jüngeren Vergangenheit hat die nordirische Gesellschaft bewiesen, dass sie die Kraft hat, sich für die Zukunft zu entscheiden, und bisher sind die Menschen von dieser Wahl nicht enttäuscht worden. Die Einsätze werden höher, aber die zu erwartenden Gewinne rücken ebenfalls näher.
Dr. Stefan Wolff, 31, ist Politologe am Fachbereich für Europastudien der University of Bath (Großbritannien). Weiterführende Links:
E-mail: redaktion@e-politik.de
Dass dies bisher nicht geschehen ist, hat zum Teil auch damit zu tun, dass die noch inhaftierten Terroristen entsprechend ihren Einfluss geltend gemacht haben, denn nur die Mitglieder von Gruppen, die ihren Waffenstillstand auch eingehalten haben, kamen für die vorzeitige Entlassung auch in Frage.
Begibt man sich nämlich von der abstrakten auf die konkrete Ebene, ist es schon kaum noch nachvollziehbar, dass jemand wie Michael Stone, ein Loyalist der zu einer Gesamtstrafe von fast 700 Jahren für sechs Morde verurteilt worden war, ebenfalls freigelassen wurde. Ihm waren unter anderem auch drei Morde an Mitgliedern einer katholischen Trauergemeinde in Belfast zur Last gelegt worden, die er 1998 auf einem Friedhof in Belfast mit Handgranaten und einer Pistole angegriffen hatte.
Gleiches gilt für Sean Kelly von der IRA, der 1993 zu neunmal lebenslang verurteilt worden war, nachdem ihn ein Gericht des Bombenanschlags auf einen Fischladen in der Shankill Road für schuldig befand, dem bis dahin blutigsten Anschlag in Nordirland.
Der triumphale Empfang für Michael Stone am Tage seiner Freilassung und die Präsenz eines anderen notorischen Loyalisten, Johnny ‚Mad Dog’ Adair, in Drumcree bei den jüngsten Unruhen während der protestantischen Marschsaison sind nicht unbedingt ein Grund zur Beruhigung.
Gleiches gilt für die Schiessereien, die sich am 17. und 18. August in Belfast abspielten und die wachsenden Spannungen zwischen den loyalistischen paramilitischen Gruppierungen widerspiegeln. Die darin reflektierte nach wie vor hohe Gewaltbereitschaft und zugleich geringe Kontrolle, die die Politiker der diese Gruppierungen repräsentierende Parteien über ihre Anhänger haben, ist nicht unbedingt ein gutes Omen für den Fortgang des Friedensprozesses.
e-politik.de: Märsche in Nordirland: http://www.e-politik.de/beitrag.cfm?Beitrag_ID=710
e-politik.de: Fact Files zu Nordirland: http://www.e-politik.de/beitrag.cfm?Beitrag_ID=711
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