e-politik.de - Artikel  ( Artikel-Nr: 849 )


Italien - Archiv

Antonio Soda

Ständig den Konsens aufrechterhalten...

Autor :  Anke Dörrzapf
E-mail: redaktion@e-politik.de

Der Abgeordnete Antonio Soda hat Anke Dörrzapf erzählt, wie Politik im italienischen Parlament in der Praxis funktioniert.


55 Nachkriegsregierungen, 24 Parteien, die den Einzug ins Parlament schaffen, Raufereien im Plenum, über 15 Jahre weitestgehend ergebnislose Reformbemühungen und Parteien, deren großes Hobby es zu sein scheint, die Koalition zu stürzen, indem sie mal wieder den Bündnispartner wechseln: Im italienischen Parlament herrschen offensichtlich andere Sitten als im deutschen Bundestag. e-politik.de-Mitarbeiterin Anke Dörrzapf fragte den italienischen Abgeordneten Antonio Soda, wie dort Politik in der Praxis funktioniert, wie problematisch die Instabilität der Regierungen ist und welche Aussichten auf Reform bestehen. Antonio Soda ist Vorsitzender der großen linken Fraktion Democratici di Sinistra-Ulivo im Ausschuss für Verfassungsangelegenheiten.

e-politik.de: Onorevole Soda, ist es tatsächlich ein Problem, dass italienische Regierungen eine kürzere Lebensdauer haben als andere europäische Kabinette, wie zum Beispiel in Großbritannien? Welche Konsequenzen hat die Instabilität für die Regierungsarbeit?

Soda: Es ist ein Problem. Die Staatsverschuldung, die wir bis 1992/93 angesammelt haben, war das Ergebnis des permanenten Falls und der Wiedergeburt von Regierungen. Wir hatten alle neun Monate eine neue Regierung, aber immer innerhalb des gleichen Systems, immer unter der Führung der Democrazia Cristiana, manchmal auch unter sozialistischer Führung, aber immer innerhalb derselben Mehrheit. Immer die gleichen politischen Kräfte produzierten immer die gleichen Regierungen. Es gab keinen wirklichen Regierungswechsel. Das verhinderte einerseits, dass die regierende Klasse hin und wieder ausgewechselt wurde. Auf der anderen Seite entfesselte es die Plünderung der öffentlichen Kassen innerhalb dieser Koalitionen. Seit 1994 haben wir etwas stabilere Regierungen, aber nur etwas. Die Regierung Prodi dauerte zweieinhalb Jahre.
Die Schwäche der Regierung erschwert es auf der einen Seite, das Regierungsprogramm durchzubringen. Auf der anderen Seite wird es für die Bürger schwierig, sich ein Urteil zu bilden. Denn noch keine Regierung hatte bislang Zeit, ein Programm durchzusetzen, das auf lange Sicht konzipiert war. Die Bürger müssen sich ihr Urteil also anhand der letzten Taten einer Regierung bilden.
Das Bedürfnis nach stabileren, dauerhafteren Regierungen wird von allen empfunden. Wie man das in eine Reform der Institutionen verwandeln kann - daran arbeiten wir nun schon seit 15 Jahren, ohne Ergebnis.

e-politik.de: Welche Probleme hat man in der parlamentarischen Praxis mit dem bestehenden Parteiensystem?

Soda:Wir haben ein vollständig fragmentiertes politisches System, besonders auf der linken Seite, in der linken Mitte. Die Rechte hat eine Art von Vereinfachung durchgemacht: Mit Alleanza Nazionale und Forza Italia dominieren auf der Rechten vor allem zwei große politische Lager, während wir im Zentrum und auf der linken Seite ungefähr 13 Parteien haben, die sich mehr oder weniger geschlossen in Wahlbündnissen zu den Wahlen präsentieren. Das heutige Wahlsystem lässt keine geschlossenen Koalitionen entstehen. Es drängt die Parteien zu Wahlbündnissen. Sobald die Wahlen aber vorüber sind, erlangen die einzelnen politischen Kräfte wieder ihre Autonomie, ihre Individualität und reproduzieren ein fragmentiertes System. Und so müssen die Allianzen jeden Tag wieder und ständig aufs Neue ausgehandelt werden.
Und innerhalb dieses Prozesses des Aushandelns gibt es immer noch die alten Phänomene unseres Landes, wie dem trasformismo: Abgeordnete, die von der Rechten zu Linken, von der Linken zum Zentrum, vom Zentrum zur Linken wechseln.

e-politik.de: Woher kommt diese Tradition des trasformismo?

Soda: Der trasformiso ist natürlich eng an die Frage der Macht gekoppelt. Abgeordnete wechseln die Linien, weil sie an der Macht teilhaben wollen, um es direkt auszudrücken.

e-politik.de:Ist die Reform des Wahlsystems die Dringlichste oder sind andere Reformen wichtiger?

Soda: Die Reform des Wahlsystems ist wichtig, darf aber nicht die einzige sein. Sie reicht nicht alleine aus, ist aber der Anfang aller institutionellen Reformen. Wir haben kein klassisches parlamentarisches rationalisiertes System. Wir haben nicht wie Deutschland in den 40er und 50ern alle Bindungen zur Vergangenheit abgebrochen. Wir hatten nie die großen Probleme Frankreichs in der Vierten Republik, die die Fünfte Republik ermöglichten. Wir haben nicht die Kultur und die Tradition des rationalisierten Parlamentarismus wie in England. Wir befinden uns immer noch in einem System, in dem die Regierungen nicht durch Wahlen, sondern durch diese permanenten Manöver im Parlament entstehen und fallen. So entstand die Regierung Berlusconi, da das gemeinsame Wahlbündnis mit der Lega Nord bei den Wahlen gewann. Sie fiel im Parlament.
Wir, das Bündnis der linken Mitte, gewannen die Wahlen durch die vor den Wahlen angekündigte Allianz mit Rifondazione Comunista. Und dann zog sich nach zweieinhalb Jahren Rifondazione zurück. Heute regieren wir mit der Hilfe von Repräsentanten, die ursprünglich auf der rechten Seite ins Parlament gewählt worden sind.
Unsere Schwierigkeiten, das politische System zu vereinfachen, die Regierungen stabil zu machen, verlangen auch, ein anderes Verhältnis zwischen Parlament und Regierung zu kreieren. Die Reform des Wahlsystems ist der Ausgangspunkt.

e-politik.de:Nicht alle Parteien wollen die gleiche Reform. Gibt es auch Parteien, die ein Reform des Wahlsystems ablehnen, kleine Parteien zum Beispiel?

Soda: Es gibt zwei Arten von Widerstand: Man hat bisher nichts erreicht, weil es Widerstand von denjenigen gibt, die sich im bestehenden System sehr wohl fühlen, und von denjenigen, die unterschiedliche Vorschläge machen. Das führt zum Stillstand und zur Lähmung. Wenn einer nichts tun will, einer "a" will, der andere "b", erreicht man letztendlich gar nichts.

e-politik.de: Wer sind diejenigen, die sich im bestehenden System wohl fühlen?

Soda: Ich glaube, dass alle kleinen Parteien sich im Grunde darin wohl fühlen. Es ist ihnen lieber als eine Reform, die sie Schritt für Schritt zu immer geschlosseneren und festeren Bündnissen zwingt, bis hin zu einer Art von Zweiparteiensystem, das wir vielleicht in wer weiß wie vielen Jahren erlangen. Heute hat man zwei in etwa gleich große Blöcke, die um die 40 Prozent liegen. Man gewinnt mit 0,5 Prozent mehr. Parteien mit einem Prozent haben eine große Kraft, denn durch dieses eine Prozent steht oder fällt die Koalition.

e-politik.de: Aber das passiert doch auch in anderen Mehrparteiensystemen. In Deutschland diente die kleine liberale Partei lange als Zünglein an der Waage.

Soda:Ja, aber diese Macht, eine Regierung zu stürzen, müssen Sie mal sieben, acht oder neun multiplizieren und dann haben Sie die Komplexität und Schwierigkeit der italienischen Situation. Wir müssen ein Koalitionsprogramm, eine Regierungsmannschaft nicht mit einer Partei aushandeln, sondern mit sieben oder acht kleinen Parteien.

e-politik.de: Wie wirkt sich das auf die tägliche Arbeit der Regierung und im Parlament aus?

Soda: Das sieht man bei der Gesetzgebung, die immer wieder dieses neue Aushandeln der verschiedenen Interessen durchmacht. Das passiert auch auf regionaler Ebene, in den Kommunen, in den Provinzen. Man merkt es in den Wirtschaftssektoren, die unter öffentlicher Kontrolle stehen. Ein Premierminister muss ständig den Konsens der verschiedenen Parteien aufrechterhalten. Der Premierminister muss sehr viel seiner Energie auf den Zusammenhalt der Regierung verwenden.

e-politik.de: Wird es jemals diese Reform geben, angesichts der praktischen Probleme, eine solche Reform durchzusetzen?

Soda: Ich glaube, dass die Situation heute sogar viel komplizierter ist als noch vor einiger Zeit. Heute gibt es eine große Vielzahl an Parteien zwischen einem und drei Prozent und einen Mangel an großen Parteien. Die größte Regierungspartei, der ich angehöre, hat bei den Europawahlen 17,4 Prozent erreicht - eine Partei, die heute nicht mal mehr die 20 Prozent überschreitet. Forza Italia pendelt zwischen 18 und 23-25 Prozent. Im Parlament differieren die Ansprüche und Forderung so sehr, dass es immer schwieriger wird, sich auf ein Wahlgesetz zu einigen, welches das Parteiensystem vereinfacht. Es ist sehr schwierig, aber wir werden es probieren. Ich weiß nicht, ob wir Erfolg haben werden.

e-politik.de: Onorevole Soda, vielen Dank für dieses Gespräch.

Bild: Copyright liegt bei Antonio Soda




Weiterführende Links:
   Homepage des Abgeordneten Antonio Soda: http://www.camera.it/chiosco.asp?content=deputati/Composizione/schede_/d00562.asp&source=/deputati/c
   Homepage des italienischen Parlamentes: http://www.parlamento.it


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