e-politik.de - Artikel  ( Artikel-Nr: 716 )


Die Türkei und Europa

Die Türkei in die EU?

Autor :  André Meral
E-mail: redaktion@e-politik.de

Die Türkei als Mitglied in die Europäische Union aufzunehmen ist für viele auch im Jahr 2000 eine utopische Forderung. André Meral wirft einen Blick auf die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Hindernisse.


Die Türkei lässt sich in kein Schema pressen

Wer sich mit der Geschichte und der politischen Entwicklung der Türkei befasst, wird feststellen, dass sich dieses Land schlecht in irgendwelche Schemata und Regionen einordnen lässt, z.B. in den Nahen Osten. Neben Israel ist sie das einzige Land in dieser Region, dessen politisches System bei allen vorhandenen Defiziten noch als Demokratie bezeichnet werden kann, wenn auch mit deutlich autoritären Zügen. Zugleich kennt kein anderes Land mit mehrheitlich muslimisches Bevölkerung eine derartige Trennung von Staat und Religion, wie sie von Mustafa Kemal Atatürk einst etabliert wurde.

Auch ist die strategische Bedeutung dieses Landes am südöstlichen Rand von Europa unverkennbar in einer Region, die oftmals von Instabilität bedroht ist. Dabei kann es für die EU von großem Vorteil sein, einen stabilen Partner gerade in diesem Teil Europas zu haben.

Nach dem Ende des Kalten Krieges, in dem der Türkei die Funktion eines Brückenpfeilers der NATO zukam, die sie nun verloren hat, erscheint es von zunehmender Bedeutung, auch unter diesem Aspekt die europäische Integration des Landes voranzutreiben.

In wirtschaftlicher Hinsicht orientiert sich die Türkei an Europa. Seit der in den 80er Jahren unter Turgut Özal begonnenen Politik der Exportorientierung und Importliberalisierung lässt sich ein deutlicher Wandel im Außenhandelsbereich feststellen. Von 2,9 Mrd. $ im Jahre 1980 stiegen die Exporte auf 26,6 Mrd. $ im Jahre 1999. Vor dem Erdbeben im letzten Jahr lag der Anteil der EU an den türkischen Exporten bei 50,0 %.
Besonders seit Inkrafttreten der Zollunion am 1.1. 1996 wurde ein Ansteigen der wirtschaftlichen Bindung an die EU registriert.

Wirtschaftliche und politische Hindernisse bleiben

Doch auf dem Weg in die EU hat die Türkei noch große Hindernisse wirtschaftlicher und politischer Art zu überwinden.
Trotz der meist positiven Wirkung der Zollunion dürfen einige Probleme nicht übersehen werden, z.B. die immer noch wichtige Rolle des Agrarsektors, dessen Anteil am Bruttosozialprodukt 1998 bei 16,8 % lag. Aufgrund der Preisgarantie für Agrarprodukte und den damit verbundenen Subventionen könnten enorme Finanzierungsprobleme entstehen. Auch kämpft die Türkei nach wie vor mit einer sehr hohen Inflationsrate, die derzeit zwischen 65 und 70 % liegt. Im Hinblick auf einen mit der Vollmitgliedschaft zusammenhängenden Beitritt zur Europäischen Währungsunion sollte gerade auch dieses Problem dringend gelöst werden.
Auch kann die Effizienz der Unternehmen durch einen Rückzug des Staates aus der Wirtschaft gefördert werden, der oftmals einen Anteil zwischen 20 und 100 % aufweist.

In der deutschen Diskussion werden vor allem politische und kulturelle Differenzen gegen eine türkische EU-Mitgliedschaft ins Feld geführt.
In diesem Jahr wurden erneut Mitglieder der prokurdischen Hadep-Partei zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt, Mitte Februar z.B. wurden die Bürgermeister der Städte Diyarbakir, Siirt und Bingöl (auch Hadep-Mitglieder) wegen angeblicher PKK-Unterstützung verhaftet.

Leider wird in der Diskussion hierzulande meist nur auf die sog. "Kurdenproblematik" eingegangen. Das erscheint bei näherem Hinsehen ein wenig oberflächlich, denn daneben existieren andere Defizite, und erst im Zusammenhang wird klar, wo die verschiedenen Mängel liegen.
Eines ist z.B. die enorme politische Instabilität des Landes, die vor allem an den zahlreichen Regierungswechseln deutlich wird; seit Gründung der Republik 1923 wechselten sich 23 Regierungen ab.

Besondere Entstehungsgeschichte

Infolge der besonderen Entstehungsgeschichte der Türkei - der Wechsel vom Osmanischen Reich zur Türkischen Republik vollzog sich nicht durch eine Bewegung aus der Bevölkerung, sondern von oben nach unten mit starker Beteiligung angeführt von Mustafa Kemal - werden Reformen auch dadurch erschwert, dass die Vorgaben Atatürks nicht angetastet werden dürfen.

Nach dem Ende des 1.Weltkrieges zerfiel das Osmanische Reich, das sich davor bis nach Südosteuropa, Nordafrika und den Kaukasus erstreckt hatte. Gegen die bevorstehende Zersplitterung des ehemaligen Weltreiches bildeten sich Widerstandsgruppen, denen sich die von Repressalien und Vertreibung bedrohte muslimische Bevölkerung und Teile der osmanischen Armee anschlossen. Um die Bestimmungen des Waffenstillstandsvertrages einhalten zu können und die Widerstandsbewegung auszuschalten, schickte der osmanische Sultan den bisherigen Oberbefehlshaber der Streitkräfte in der Südtürkei Mustafa Kemal nach Samsun.

Doch statt dem Befehl des Sultans zu folgen, stellte sich Mustafa Kemal an die Spitze der Widerstandsbewegung. Die Hauptforderung der Bewegung bestand darin, die territoriale Integrität und nationale Unabhängigkeit der osmanischen Gebiete wiederherzustellen.
Statt wie im osmanischen Reich die Religion sollte nun die Nation das entscheidende Verbindungselement sein. In der Türkischen Republik wurde die Religion auf den privaten Bereich zurückgedrängt und als Gewissensangelegenheit ohne Einfluß auf den Staat (Laizismus) angesehen. Dies wurde z.B. auch im Rahmen der Säkularisierungspolitik in den 20er und 30er Jahren deutlich.

Zu den Vorgaben Atatürks gehörte auch der Nationalismus. In diesem Zusammenhang sind auch die Beschränkungen der Meinungsfreiheit durch Artikel 8 des Antiterrorgesetzes zu nennen, nach dem separatistische Äußerungen jeder Art mit langjährigen Haft- und hohen Geldstrafen bestraft werden. Schon die Rede über die Anerkennung der kurdischen Identität wird als Separatismus interpretiert. Unter diesem Aspekt ist die Verletzung der Menschenrechte vieler Kurden zu sehen.

Ein weiteres Problem ist die immer noch stattfindende Folter, obwohl Folter seitens der Sicherheitskräfte kraft Gesetz verboten ist. Die Verfolgung von Ärzten, die sich um Folteropfer kümmern, steht bis heute auf der Tagesordnung.
Nach den Kopenhagener Kriterien müssen Menschenrechte nicht nur in der Verfassung und in anderen Gesetzen verankert sein, sondern auch effektiv geschützt werden. Für die Türkei eine zwiespältige Angelegenheit.

Militär bleibt ein Unsicherheitsfaktor

Neben diese Demokratiedefiziten sollte auch über die Rolle des türkischen Militärs diskutiert werden. Obwohl laut Verfassung "die militärische Gewalt der zivilen Gewalt unterworfen" sein soll, agiert das Militär seit Bestehen der Republik, bei deren Gründung es eine aktive Rolle spielte, relativ eigenständig und besitzt neben den demokratisch legitimierten Institutionen einen hohen Grad an Selbständigkeit in der Politik.

1961 wurde mit der Einrichtung des Nationalen Sicherheitsrates, in dem neben dem Regierungschef einige Minister mit den Spitzen des Militärs Fragen der inneren und äußeren Sicherheit beraten, der Einfluß der Armee institutionell festgeschrieben. Fast jedes politische Problem kann vom Nationalen Sicherheitsrat diskutiert werden, dessen demokratische Legitimation in Zweifel gezogen werden.

Die Türkei muss eine wirkliche Zivilgesellschaft werden

Im Hinblick auf eine Demokratisierung der Türkei ist vor allem die Stärkung einer Zivilgesellschaft wie auch die Schaffung einer stabilen Wirtschaft von Bedeutung. Dazu gehört die Akzeptanz unterschiedlicher politischer Kräfte und Denkweisen als Teil einer heterogenen und pluralistischen Gesellschaft.

Statt die Türkei zu isolieren, bietet sich mit der Aussicht auf eine EU-Vollmitgliedschaft des Landes die Aussicht, auf diesem Weg auch voranzukommen. Beispiele dafür sind neu stattfindende Diskussionen in der Türkei seit dem Beschluss von Helsinki im Dezember 1999, z.B. über die Abschaffung der Todesstrafe.





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