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e-politik.de - Artikel
( Artikel-Nr: 1220 )Das politische System Korsikas und seine Geschichte - Avantgarde und Archaismus
Autor : Philipp Nowack
E-mail: redaktion@e-politik.de
Von der angeblich ersten, viel bewunderten repräsentativen Demokratie der Welt zum renitenten und rückständigen Klotz am Bein Frankreichs - Die Wahrnehmung der Insel unterliegt deutlichen Schwankungen. Philipp Nowack erläutert.
Das 18. Jahrhundert ist den patriotischen Korsen Trauma und Ideal zugleich. In den turbulenten, von Aufständen und faktischer Anarchie geprägten Jahren schaffte es auf der bis dahin zu Genua gehörenden Insel der deutscher Abenteurer Theodor Neuhof, zum König von Korsika aufzusteigen. Seine "Herrschaft" blieb ein kurzes Intermezzo. Ein neuer Anlauf zur Unabhängigkeit unternahm der Nationalheld Pascal Paoli. Der junge Paoli hatte auf dem italienischen Festland seine Ausbildung erhalten und kehrte 1755 zurück, um sich an die Spitze der Unabhängigkeitsbewegung zu stellen. Damals hatte Genua bis auf einige Hafen- und Küstenorte die Kontrolle über die Insel bereits verloren.
Rousseau und die Korsen
Als Reaktion auf genuesische Unterdrückung installierte Paoli noch vor den USA ein System der Volkssouveränität. Einer seiner Generäle trat in Kontakt mit Jean-Jacques Rousseau, um ihn um die Ausarbeitung einer Verfassung für Korsika zu bitten. Es entwickelte sich ein reger Schriftwechsel, die Verfassung blieb jedoch ungeschrieben. Rousseau sah sich angesichts seiner bedrängten Lage im Exil nicht im Stande, die anspruchsvolle Aufgabe zu erledigen. Immerhin notierte er im Jahre 1765 einen Entwurf, dem in der nachträglichen und einzigen Edition von 1861 der Name "Projet de Constitution pour la Corse" gegeben wurde. Rousseau sah in Korsika ähnlich wie in Polen die letzten Flecken in Europa, wo die Gesellschaft noch in einem weitgehend natürlichen, agrarisch geprägten Zustand lebe, also unverdorben und noch zur Gesetzgebung fähig ist. Selbst war Rousseau nie in Korsika; er ließ sich nur schriftlich auf dem Laufenden halten und bekundete selbst Bewunderung für das auf der Insel bereits erreichte.
Viele Zeitgenossen - vor allem aus England - nahmen reges Interesse an dem Schicksal der kleinen Insel, die, nachdem sie die genuesische Herrschaft mehr oder weniger abgestreift hatte, sich selbst so fortschrittlich organisierte. Das berühmteste, weil doppelbödigste Zitat stammt vom Bewunderer Rousseau selbst: "Ich habe die Ahnung, dass eines Tages diese kleine Insel Europa erstaunen wird."
Ein Deal zwischen Genua und Frankreich beendete diese Episode. 1768 kaufte Frankreich für 2 Millionen Francs die Insel, ein Jahr später wurden Paolis Truppen niedergekämpft. Er selbst ging ins Exil nach London. Versuche, im Zuge der Revolution noch einmal als Gouverneur Korsikas die Geschicke der Insel in seinem Sinne beeinflussen zu können, erfüllten sich nicht. Auch das Protektorat über die Insel, das er der englischen Krone andiente, blieb eine kurze Episode. Paoli starb 1807 im Londoner Exil.
Traditionelle gesellschaftliche Strukturen
Diese Zeit ist manch glühendem Nationalisten auch heutzutage noch Vorbild. Dafür verdammen sie die Clans, die die französische Herrschaft auf der Insel fest verankert haben.
Tatsächlich ist das, was man "Clanisme" nennt, eine effiziente Form der Integration geworden. Der Staat gewährt die Posten in Politik, Verwaltung und Militär. Korsikas Blutzoll im Ersten Weltkrieg war beispielsweise überproportional hoch; verglichen mit der geringen Bevölkerung stellte die Insel viele Minister. Auf der Insel sichert der Clan durch sein Beziehungsgeflecht die Loyalität der Bevölkerung. Die Topographie der Insel mit dem unzugänglichen Landesinnern und den verstreuten Dörfern trug wesentlich zur Stabilität dieses auf persönliche Beziehungen basierende Geflecht bei.
Familien wie die Rocca-Serras (RPR, Rechte) sind im Süden fest verwurzelt, die Giacobbis und die Zuccarellis (beide PRG, Linke) dominieren den Norden der Insel seit etwa 150 Jahren, sei es als Präsidenten der Generalräte (gewählte Selbstverwaltungsorgane der Départements) oder sei es als Bürgermeister wie die Zuccarellis. Emile Zuccarelli war bis vor kurzem auch noch Minister für Öffentliche Dienste im Kabinett Jospin und überwarf sich ähnlich wie Chevènement mit dem Premier über die Korsikapolitik. Bei Zuccarelli standen aber eher persönliche Interessen im Hintergrund: Jede Reform, die am Zuschnitt der Gebietskörperschaften rüttelt, gefährdet auch die Posten der Seinen.
Parteien und Parlament
Klare Trennungen zwischen rechts und links gibt es nicht. Das französische Parteiensystem bildet sich in Korsika nur auf den ersten Blick ab. Die meisten in den beiden Generalräten und der Regionalversammlung vertretenen Parteien kennt man vom Festland, ihre politische Programmatik diffundiert aber jenseits dieser Parteigrenzen. Politische Richtungsentscheidungen sind den Interessen der Clans untergeordnet, sodass die nominelle Stärke der konservativen Parteien sich nicht in einer entsprechenden politischen Wirkung niederschlägt. Einigkeit besteht bei den "Traditionalisten" im Gegensatz zu den Nationalisten verständlicherweise darin, nichts von der Unabhängigkeit der Insel zu halten. Ein weiterer gemeinsamer Nenner der meisten Parteien sind Resolutionen, die die Anerkennung des korsischen Volkes fordern. Unterhalb dieser Maximen ist freilich viel Raum.
Koalitionen bilden sich angesichts der programmatischen Diffusität unabhängig von der Parteienarythmetik und sind oftmals Ausdruck clientelistischer Interessen. Da unterstützt schon mal - wie im Generalrat des Départements Haute-Corse - ein Gaullist einen Linken, um einen parteiinternen Konkurrenten klein zu halten. Ein demokratischer Wettbewerb findet in diesem System kaum statt. Die Regionalversammlung bildet dabei die Verhältnisse in den Generalräten ab. Gleichzeitige Mitgliedschaften in beiden Gremien sind zulässig.
Rechte, Linke und Korsen
Dieses betonierte System wird gerade von den Nationalisten heftig angegriffen. Dadurch können sie sich zum Wortführer der politischen Modernisierung aufschwingen, ohne dieser Modernität auch in ihrer Programmatik unbedingt Rechnung zu tragen. Sie selbst konstituieren sich aus Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft; vom Vorsitzenden der korsischen Fischervereinigung bis zum Rechtsanwalt ist in ihrer derzeit 8-köpfigen Fraktion alles vertreten, eine Mischung von Intellektuellen und Kleinbürgertum. Der Fraktionschef Jean-Guy Talamoni behauptet bezeichnenderweise, "weder rechts, noch links, sondern Korse" zu sein.
Ihrem Gesicht nach ist die Regionalversammlung ein normales Parlament mit allen entsprechenden Rechten der internen Organisation. Sogar das Instrument des Konstruktiven Misstrauensvotums wurde durch das letzte Korsika-Statut von 1991 eingeführt und dem Parlament damit eine Handhabe gegenüber seiner Exekutive eingeräumt, die nicht einmal die Pariser Nationalversammlung hat. Aber angesichts der multiplen Konfliktlinien jenseits von rechts und links zeigte sich die Versammlung bislang wenig handlungsfähig.
Kaum eine Wahlperiode endete ordnungsgemäß nach 6 Jahren. Schon die erste gewählte Versammlung im Jahre 1982 scheiterte daran, dass die gemäßigte, für Autonomie eintretende, antitraditionalistische UPC (Union du Peuple Corse) eine Politik des leeren Stuhls verfolgte und damit gegen die politischen Verhältnisse protestierte, die die Veranstaltung zu einem Scheinparlament degradieren würden. Auch das jüngste Parlament geht aus einer Neuwahl hervor. Diesmal vermutete die UPC Wahlbetrug. Sie hatte nur 4,97% der Stimmen erhalten, und das bei einer 5%-Hürde... Die Schwäche der gemäßigten Autonomisten wird von vielen als Problem gesehen. Obwohl sie in Umfragen relativ viel Sympathien genießen, können sie sich auf parlamentarischer Ebene kaum Einfluss verschaffen. Durch deren Abstinenz fehlt dem Insel-Parlament dessen einstiger stärkster Befürworter.
Die Abstimmung über das neue Korsika-Statut
In der Vielfalt an Fraktionen unterscheidet sich die gegenwärtige Versammlungen wenig von den früheren Wahlperioden. Neun Fraktionen teilen sich die 51 Sitze. Dass die Zersplitterung nicht noch größer ausgefallen ist, liegt daran, dass die Rechte (17 Sitze) ebenso wie die Nationalisten (acht Sitze) unter einer gemeinsamen Liste angetreten sind. Ein wenig erstaunlich war es schon, dass der jüngste Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung des Korsika-Statuts so einhellige Zustimmung bei den korsischen Parlamentariern gefunden hat, vor allem bei der Rechten.
Die Linke zeigte sich hingegen ungewöhnlich gespalten und lieferte die einzigen 2 Gegenstimmen - darunter der Ex-Minister Zuccarelli - und vier der fünf Enthaltungen. Die Nationalisten stimmten komplett für den Entwurf. Dass mit dem neuen Statut alles in Butter ist, glauben die wenigsten. Kurz nach Bekanntwerden der Initiative Jospins im September 1999 äußerten sich die Abgeordneten Giacobbi (PRG) und Renucci (Sozialdemokraten) gegenüber der Zeitschrift "L'Express" noch selbstkritisch. "Im Augenblick werden die Abgeordneten noch nicht ihrer Verantwortung gerecht! Wir müssen uns von der Tradition befreien, viel und schön zu reden und alles von Paris zu erwarten. Wir schätzen das Wort mehr als die Tat." Und Renucci führt aus: "Wir waren unfähig das Budget zu verabschieden. Der Präfekt musste das für uns tun...Er wird sich wundern, wenn er hört, dass wir mehr Autonomie verlangen." Letztendlich stimmten beide zu. Offenbar galt es, die Kuh vom Eis zu bringen und man vergaß die Skrupel.Der Vorhang geschlossen, alle Fragen offen?
Die Verantwortung über das Budget wird künftig noch größer. Denn durch die ab 2001 übertragenen zusätzlichen Kompetenzen wird noch mehr Geld zur Verfügung stehen. Bislang verfügt die Region (ohne Départements) über gut drei Milliarden Franc. Verglichen mit einem deutschen Bundesland ist das nichts. Gemessen an den kompetenzärmeren Festlands-Regionen und deren geringem Budget und gemessen an der geringen Bevölkerungszahl von 260000 ist das absoluter französischer Rekord. Ein Drittel davon steht allein für die sogenannte Continuité Territoriale zur Verfügung. Dabei handelt es sich um eine Subvention für den Transport von Gütern und Personen, die unter den von Frankreich aus verkehrenden Flug- und Fährgesellschaften ausgeschrieben wird und die Fahrpreise senken soll. Dadurch sollen die Nachteile der Insellage kompensiert werden.
Jenseits dessen hat aber schon die Debatte über den in Aussicht gestellten Neuzuschnitt der Gebietskörperschaften begonnen. Sollen die beiden Départements zu einem zusammengefasst werden oder ganz zugunsten einer Bündelung aller Kompetenzen bei der Region abgeschafft werden, um damit der personalintensiven und gleichzeitig uneffektiven "Überadministrierung" der Insel zu begegnen mit ihren insgesamt drei Parlamenten, deren Verwaltungen und überdies den zentralstaatlichen Verwaltungseinrichtungen? Sind 14000 Beamte für eine viertel Million Einwohner nicht zu viel? Je konkreter solche Fragen diskutiert werden, umso mehr wird die Einvernehmlichkeit abnehmen. Zu viele profitieren von der politischen und administrativen Unordnung samt der überreichlich vorhandenen Posten.
Und die Nationalisten? Sie murrten über die Ergänzungen und Abschwächungen, die der Gesetzentwurf in den Ausschüssen durchmachte und fordern die Freilassung der inhaftierten Kameraden und natürlich weiterhin die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts des korsischen Volkes. Der von Jospin erreichte Burgfrieden steht vor großen Herausforderungen.
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